Prolog
Markus und Josef – Sommer 1999
Markus
Ich war so glücklich, fühlte mich im 7. Himmel. Mein Studium lief gut, mit Josef hatte ich nach einigen Enttäuschungen endlich jemanden kennen und lieben gelernt, der mich so nahm, wie ich bin, mit allen Ecken und Kanten.
Noch lebten wir in getrennten Wohnungen, waren aber schon seit einiger Zeit auf der Suche nach einer passenden Wohnung. Während ich mich mit einer kleinen Einraumwohnung in der Stadt begnügte, logierte mein Schatz in einer geräumigen 3 Zimmerwohnung außerhalb, direkt über seiner Werkstatt.
Wir hatten uns bei einer Projektarbeit kennen gelernt. Ich musste eine Recherche machen und einen Bericht über Handwerker schreiben. Also klapperte ich das Internet auf der Suche nach einem passenden Betrieb ab.
Bei den meisten, die ich anrief, wurde ich von der Sekretärin abgewimmelt und hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, als ich auf Josefs Betrieb stieß.
Bei ihm meldete sich der Anrufbeantworter und ich laberte meinen Spruch darauf, kaum hoffend, dass ich einen Rückruf erhalten würde.
Josef
Ich war frustriert.
Nachdem ich meinen Meister gemacht und die Werkstatt meines Vaters von eben auf gleich hatte übernehmen müssen, hätte ich die Unterstützung meiner Frau gut gebrauchen können.
Aber eine gescheiterte Beziehung lässt sich halt schwer wieder auf die Reihe bringen. Zu viele Dinge waren geschehen. Erst war ich zu sehr damit beschäftigt meinem Meister zu machen und dadurch eh schon zu selten zu Hause und dann kam, kurz nach bestandener Prüfung, der Schlaganfall meines Vaters hinzu.
Noch mehr Arbeit, noch mehr Verantwortung, dazu die Besuche im Pflegeheim, das war zu viel für unsere Beziehung.
Martina hatte mir eines Abends erklärt, dass sie sich verliebt habe und mich verlassen würde. Eine Woche später war sie mit Sack und Pack ausgezogen, einen Teil der Möbel hatte sie mit-genommen.
Nun saß ich in meiner Wohnung und grübelte, wie es weitergehen sollte. Ich sehnte mich nach Liebe, brauchte jemanden an meiner Seite, den ich mit meinen Plänen begeistern konnte, der mit mir eine gemeinsame Zukunft aufbauen wollte. Meine Arbeitstage waren lang, ich kam oft erst spät von der Arbeit nach Hause, die Buchhaltung machte ich am Wochenende. Freizeit war fast schon ein Fremdwort.
Auch an diesem Abend war ich spät zurückge-kommen und sah, dass der Anrufbeantworter schon wieder blinkte. Der musste warten, erst brauchte ich eine ausgedehnte Dusche und danach ein Glas Bier.
Markus
Es war schon kurz nach 21 Uhr als das Telefon läutete. Ich meldete mich nur mit einem knappen »Hallo.«
»Heiland hier, sorry wenn ich so spät erst anrufe, aber ich bin eben erst nach Hause gekommen und habe den AB abgehört.«
»Ah, klasse, dass Sie mich zurückrufen«, ant-wortete ich. Der Typ hatte eine großartige Stimme, wie der wohl aussah, ging es mir durch den Kopf.
»Wie kann ich Ihnen denn nun helfen?« drang es an mein Ohr.
»Nun, ich studiere Journalismus und soll eine Reportage über einen Handwerksbetrieb schreiben.«
»Und wie kommen Sie da gerade auf mich?«
»Ehrlich gesagt sind Sie der Einzige, der über-haupt reagiert hat. Bei allen anderen, die ich vorher angerufen habe, wurde ich direkt von der Sekretärin bzw. Ehefrau abgewimmelt.«
»Da haben Sie Glück, meine Frau, die auch gleichzeitig meine Sekretärin war, hat mich vor einigen Monaten verlassen«.
Ich wusste darauf nichts zu sagen und wartete einfach, dass er weiterreden würde. Schade, dachte ich nur, so eine geile Stimme aber leider eine Hete.
Josef
Mann, was war das denn, schoss es mir durch den Kopf. Warum erzählte ich einem völlig Un-bekannten, dass meine Frau mich verlassen hatte.
»Ja, also wie stellen Sie sich das denn nun konkret vor?«
»Also, ich würde zunächst ein Interview mit Ihnen führen und mir dann gerne Ihren Betrieb ansehen und wie Sie und Ihre Leute da so arbeiten.« Das konnte heiter werden. Glaubte der Bursche ich hätte einen Großbetrieb?
»Leute ist übertrieben« begann ich fortzufahren.
Markus
» … Leute ist übertrieben«, hörte ich ihn sagen.
Diese Stimme, ich war überhaupt nicht in der Lage emotionslos und professionell dieses Telefonat zu führen,
» … eigentlich arbeite ich die meiste Zeit allein, nur wenn ich Innenausbauten mache, die ich nicht allein bewerkstelligen kann, hole ich mir Hilfe.«
«Wow, das klingt mehr als spannend«, endlich hatte ich mich gefangen, »da lässt sich bestimmt eine großartige Reportage daraus machen.« Wir redeten noch eine Weile darüber, was danach geschehen würde, wenn die Reportage fertig sei. Er wollte wissen, ob diese dann auch veröffentlich werden würde. Schließlich verabredeten wir uns für ein erstes Gespräch im Biergarten.
So hatte es begonnen, unser gemeinsames Le-ben. Wie stürmisch es werden würde, daran hätten wir im Leben nicht geglaubt.
Kapitel 1 –
Reise nach Jerusalem – Dezember 2000
Markus
Wir hatten die Suche nach einer gemeinsamen Wohnung aufgegeben, es war einfach nichts auf dem Markt was uns beiden gefiel und bezahlbar war. Josef hatte mir den Vorschlag gemacht bei ihm einzuziehen und die Wohnung komplett umzugestalten.
Einen Großteil der Möbel hatte er geschreinert, nach den Vorstellungen seiner Frau. Einige davon hatte sie bei ihrem Auszug mitgenommen und übrig waren das Ehebett und die Schränke und Kommoden im Schlafzimmer.
Für das Wohnzimmer hatte er sich nur einen Fernsehsessel und einen kleinen Beistelltisch gekauft, ansonsten war es bis auf einen Teppich leer.
Mit der Küche konnte ich mich arrangieren aber das Wohnzimmer musste neu möbliert werden und auch das Ehebett war mir ein Dorn im Auge. Nicht das es mich gestört hätte, dass Josef mit einer Frau zusammen gewesen war, aber für unser Liebesleben wollte ich doch etwas haben, in dem vorher keine mir fremde Person mit meinem Hasen gekuschelt hatte.
Josef
Ich hatte mich direkt bei unserem ersten Treffen hoffnungslos in Markus verliebt. Dieser Ernst, den er in sich trug, der wollte so gar nicht zu seinen siebenundzwanzig Jahren passen. Und dann diese Augen, dieser Blick, mit dem er einen gefangen nahm.
Früh schon hatte ich gemerkt, dass ich eher mehr auf Männer als auf Frauen stand, hatte auch erste sexuelle Erfahrungen in dieser Richtung gemacht, mich aber für das konventionelle Leben entschieden als ich mich in Martina verliebt hatte.
Es lag aber wahrscheinlich auch daran, dass ich Kinder mag und immer eigene haben wollte.
Markus
»Bye, sag Mosche einen schönen Gruß«, beendete ich den Skype mit meiner Zwillingsschwester Katharina und klappe den Laptop zu.
Mir stand ein breites Grinsen im Gesicht, ich würde Onkel werden, Ende Dezember, Anfang Januar sollte es soweit sein, der errechnete Geburtstermin war der 31. Dezember.
Wir hatten gerade besprochen, dass Josef und ich schon am 23. Dezember nach Tel Aviv fliegen und von dort mit einem Leihwagen nach Jerusalem fahren würden.
Wohnen würden wir bei Mosches Bruder David, der hatte eine große Wohnung. So würden wir uns die Kosten für ein Hotel sparen können.
Unsere Eltern würden erst nach der Geburt nach Israel reisen, mein Vater konnte sich wieder einmal nicht von seiner Praxis trennen.
Josef
Markus wollte zunächst nicht bei mir einziehen, er wollte mit mir eine eigene Wohnung einrichten. Nur fand sich eben nichts Passendes. Mir war das ehrlich gesagt mehr als recht. Ich hätte sonst jeden Tag von der Wohnung zur Werk-statt fahren müssen.
Um seinen Wünschen nach etwas Eigenes entge-gen zu kommen, hatte ich damit begonnen ein neues Bett für uns zu tischlern.
Für das Wohnzimmer hatte ich auch schon etwas ins Auge gefasst. Einer meiner Kunden hatte ein wunderbares Buffet, was er gerne verkaufen wollte, da es zu den neuen Möbeln, die er bei mir in Auftrag gegeben hatte, nicht passen würde. Mir gefiel diese Kombination zwischen alt und neu, mal sehen, wie Markus es sehen würde. Am Abend wollte ich ihm diesen Vorschlag machen.
Markus
Josef hatte kaum die Wohnungstür geschlossen, da fiel ich ihm auch schon um den Hals und flüsterte ihm die Neuigkeiten ins Ohr. Er drehte meinen Kopf so, dass er mir in die Augen sehen konnte und strahlte über das ganze Gesicht. »Wir werden Onkel, pardon, du wirst Onkel«.
Er hatte wir gesagt, mir liefen die Tränen, ich konnte meine Emotionen nicht im Griff halten.
»Habe ich etwas falsches gesagt?«, erschrocken blickte er mich an.
Ich schüttelte nur den Kopf, war immer noch nicht in der Lage etwas darauf zu sagen. Stattdessen küsste ich ihn, lange und sehr intensiv.
Etwas später, nachdem er sich geduscht und umgezogen hatte, machten wir in der Küche Reisepläne.
Während ich das Gemüse für unser Abendessen schnippelte suchte Josef im Internet nach pas-senden Flügen und einem Leihwagen.
Josef
Wir würden ein Kind haben, war der erste Ge-danke, der mir durch den Kopf ging, als Markus mir die tollen Neuigkeiten ins Ohr flüsterte.
Erst als ich »wir werden…« ansetzte zu sprechen, fiel mir im letzten Moment ein, »… Onkel« zu sagen, erst da realisierte ich, dass Katharina schwanger war und nicht Markus. Bei ihm wäre das auch ein Wunder gewesen, eines, dass sich in etwas anderer Form vor fast zweitausend Jahren im Nahen Osten ereignet hatte. Wobei der Schauplatz nahezu identisch war.
Nun saß ich da, hatte zur Feier des Tages ein Glas Sekt vor mir stehen, und suchte im Internet nach Flügen.
»Es gäbe da einen günstigen Flug mit El Al, da ist nur der Rückflug zu einer ungünstigen Zeit«, ich sah Markus an.
»Das überlasse ich alles dir, mein Schatz.« Nun hatte ich wieder den schwarzen Peter. Wir hatten noch Zeit. Das Essen roch verführerisch und ich hatte etwas anderes, sinnlicheres im Kopf als nach Flügen zu sehen.
Ich klappte meinen Laptop zu, nahm meinen Sekt und trat zu meinem Schatz an den Herd.
Markus
Meinen Eltern hatte ich Josef bis jetzt unter-schlagen und auch Katharina gebeten, ihnen nichts von ihm zu sagen. Mein Vater kam mit meinem Schwulsein nicht so gut zurecht, meine Mutter dagegen sehnte sich nach einem Schwiegersohn.
Am kommenden Wochenende sollte es soweit sein, wir würden nach Mainz fahren, besser gesagt, ins Hinterland, dahin, wo ich aufgewachsen war und mein Vater immer noch als Landarzt praktizierte. Während ich nervös durch die Gegend rannte, blieb Josef gelassen.
»Dein Vater wird mich schon nicht beißen« war der einzige Kommentar, den er von sich gab.
»Meine Mutter wird dich mögen«, du bist so bo-denständig und siehst dabei auch noch so großartig aus.« Josef lächelte mich nur lieb an.
Josef
Die Gegend, in der Markus aufgewachsen ist, hat mir sehr gut gefallen. Ich war zuvor noch nie am Rhein, hatte mir den Fluss nicht so stark befahren vorgestellt.
Bei Irene hatte ich sofort einen Stein im Brett, wir verstanden uns von Anfang an.
Bernd war zunächst sehr zurückhaltend, taute aber bald auf. Er war neugierig, stellte seine Fragen aber sehr diskret. Als er hörte, dass ich von eben auf gleich die Werkstatt meines Vaters hatte übernehmen und mich gleichzeitig um die Heimunterbringung kümmern musste, war das Eis gebrochen.
Da hatte auch er mir das du angeboten. Ab da wurden Kindheitserinnerungen ausgegraben, Fotoalben hervorgeholt und ich in die ganze Familiengeschichte eingeführt.
Es ist ein schönes Gefühl, Teil einer Familie zu sein.
23. 12. 2001 Markus
Puh, geschafft, das Gepäck war aufgegeben, die Personenkontrolle und Ausreise hatten wir hinter uns und saßen nun im Transitbereich bei einer Tasse Kaffee, darauf wartend, dass das Boarding beginnen würde.
Vier Stunden würde der Flug dauern, so dass wir am frühen Nachmittag ankommen sollten, vorausgesetzt, die Maschine hob pünktlich ab.
Unser beider erster Besuch in Israel. Viel würden wir wahrscheinlich nicht sehen, meine Schwester war ja hochschwanger und außerdem hatten wir uns so lange nicht gesehen, dass es viel zu ratschen gab.
Meinen zukünftigen Schwager würde ich auch besser kennen lernen, wir hatten uns bislang nur zweimal gesehen.
Josef
Endlich waren wir in der Luft, mit dreißig minü-tiger Verspätung. Wir hatten wohl die Reise-flughöhe erreicht, denn die Crew begann damit Getränke und Essen zu servieren. Markus war unruhig, irgendetwas schien ihn zu beschäftigen.
Ich legte sachte meine Hand auf seine Linke, »was fehlt dir mein Hase, du bist so nervös?«
»Ich weiß es nicht, es geht mir schon so, seitdem wir die Ausreisekontrolle hinter uns ge-bracht hatten. Es ist, als wenn ein Damoklesschwert über mir schweben würde. Ich habe das Gefühl, dass etwas ganz Schlimmes passiert ist oder passieren wird«, schluchzte er.
»Ganz ruhig, ich bin doch bei dir, du wirst sehen du bist nur aufgeregt, weil du deine Schwester so lange nicht gesehen hast.«
Aber er ließ sich nicht beruhigen, zappelte den ganzen restlichen Flug auf seinem Platz herum und hatte es nach der Landung eilig, aus der Maschine zu kommen.
Markus
Warum nur dauerte es so lange, bis das Gepäck ausgeladen war. Was war das nur für ein Wald- und Wiesenflughafen?
Meine Blase meldete sich, ich bat Josef nach unseren Koffern Ausschau zu halten und machte mich auf die Suche nach einer Toilette. Als ich zurück kam hatte sich das Band in Bewegung gesetzt und Josef bereits einen unserer Koffer neben sich stehen. Ich erspähte meinen Trolley und kurze Zeit später gingen wir durch den Zoll.
Wir konnten ohne Probleme passieren und waren endlich in der Ankunftshalle.
Ich hielt Ausschau nach den Hinweisschildern für die Leihwagenfirmen als mein Blick an zwei Polizisten haften blieb, die ein Schild mit unseren Namen in den Händen hielten. Mir wurde schlecht, ich glaubte mir würde der Boden unter den Füßen weggerissen.
Josef
Als Markus zu taumeln anfing, griff ich instinktiv nach seinem Arm, um ihn zu stützen und sah im gleichen Augenblick die beiden Polizisten.
Ich stellte meinen Koffer ab und machte mit meiner nun freien Hand die beiden Herren auf uns aufmerksam.
»Sind Sie Herr Mendel?« wandte sich der eine an mich.
»Nein, ich bin Herr Heiland, mein Freund hier ist Herr Mendel«, antwortete ich und sah in fragend an.
»Wir haben leider sehr schlechte Nachrichten für Sie«, die Schwester von Herrn Mendel wurde bei einem Schusswechsel verletzt, ihr Begleiter getötet. Unsere Aufgabe ist es, sie auf schnellstem Weg in die Klinik nach Bethlehem zu bringen.
Nicht eine Minute später rasten wir mit Blaulicht über die Autobahn in Richtung Jerusalem.
Kapitel 2 – Die Geburt
Markus
Ich war wie versteinert, meine Gedanken kreisten nur noch um meine Schwester und das Kind. Josef hielt meine Hand und redete tröstend auf mich ein, meinte, ich solle die Hoffnung nicht aufgeben.
Josef
Markus hing wie ein Häufchen Elend im Sitz. Ich hielt seine Hand und versuchte ihn so gut wie es ging zu beruhigen, hatte damit aber wenig Erfolg.
Nach einer knappen Stunde hatten wir Jerusalem erreicht und kämpften uns nun durch das Verkehrsgewühl Richtung Bethlehem. Katharina hatte man in das Malteser Krankenhaus zur Heiligen Familie eingeliefert, eine Klinik mit Ge-burtsstation, in der sie selbst als Arzt im Prak-tikum arbeitete.
Markus
Wir waren endlich in der Klinik angekommen.
Auf der Station wurden wir direkt in das Zimmer des Chefarztes geführt. Ich wollte zu meiner Schwester aber der Arzt wollte zuerst mit uns reden.
Ob Katharina eine Patientenvollmacht habe, wollte er wissen. Ich schüttelte den Kopf, ich wusste es nicht, wir hatten nie über so was gesprochen. Unsere Eltern hatten solche Vollmachten.
»Kann ich jetzt bitte zu meiner Schwester?«
»Ja, sie dürfen gleich zu ihr aber wir müssen das mit der Vollmacht wissen, es müssen Ent-scheidungen getroffen werden.«
»Welche Entscheidungen?«, ich fühlte wie mir schlecht wurde.
»Ihre Schwester ist hirntot…«
Josef
Als der Arzt hirntot sagte, klappte Markus endgültig zusammen. Er bekam einen Schrei-krampf und kotzte ohne Vorankündigung quer über den Schreibtisch des Arztes.
Kurz danach lag er, vollgepumpt mit Beruhi-gungsmitteln im Bereitschaftszimmer, in dem sonst die Ärzte während der Nachtschicht sich hinlegen können, sofern es die Arbeit zulässt.
Obwohl ich vor Angst um Markus selbst wie Es-penlaub zitterte, arbeitete mein Verstand wie ferngesteuert.
Mit fielen die Eltern ein, hatte man sie denn schon verständigt, wussten sie von dem Unglück.
Als ich den Arzt fragte verneinte er, die Klinik hatte weder die Telefonnummer noch sonstige Angaben von den Eltern. Ob die Polizei sie informiert hatte, wusste er auch nicht, griff aber sofort zum Telefon, um es in Erfahrung zu bringen.
Markus
Als ich wieder zu mir kam, lag ich in einem klei-nen Raum und Josef saß schlafend in einem Ses-sel an meinem Bett. Mir fiel sofort wieder meine Schwester ein und schon stiegen mir die Tränen wieder in die Augen. Durch mein Schluchzen wurde Josef wach.
»Na Kleiner, bist du wieder wach?«, er setzte sich zu mir aufs Bett und strich mir über den Kopf. »Es tut mir so leid für dich, sag mir was ich tun soll, wie ich dir helfen kann?«
»Ich will Katharina sehen, jetzt sofort«, ich schlug die Decke zurück und merkte erst jetzt, dass ich nur eine Unterhose trug. »Wo sind meine Klamotten?«
»Du hast dich zu gekotzt, die sind in einem Krankenhausbeutel, die kannst du so nicht mehr anziehen, die müssen erst gewaschen werden. Warte einen Moment, ich gebe dir ein frisches Shirt und frische Jeans, ich muss nur erst die Kofferschlüssel finden.« Es dauerte nicht lange, bis Josef die Schlüssel gefunden und mir frische Kleidung in die Hand drückte.
»Hinter dieser Tür ist ein kleines Bad mit einer Dusche«, sagte er und wies mit dem Kopf in die entsprechende Richtung.
Josef
Nachdem Markus sich geduscht hatte und in frischer Kleidung ungeduldig darauf wartete, dass wir zur Intensivstation gingen, berichtete ich ihn erstmal über den Stand der Dinge.
»Ich habe mit deinen Eltern telefoniert, sie kommen mit der nächsten Maschine, ich hoffe es ist dir recht?«
Er nickte. »Bitte, komm, ich muss sie sehen!«
Markus
Da lag sie, an tausende Maschinen angeschlos-sen, einen dicken Verband um den Kopf, Sonden in Mund und Nase, so dass ich sie nicht einmal küssen konnte.
Ich nahm ihre Hand und murmelte immer wieder »bitte, bitte wach auf, werde gesund, das Kind bracht dich doch.«
Ich weiß nicht mehr wie lange ich an ihrem Bett gesessen bin. Irgendwann kamen Ärzte und Pfleger und baten uns, das Zimmer zu verlassen, der Zustand habe sich verschlimmert, sie müssten Katharina von dem Kind entbinden.
Ein Pfleger begleitete uns zurück in das Bereit-schaftszimmer, wo noch immer unser Gepäck stand.
»Hier können sie warten, ich komme wieder zu Ihnen, sobald das Kind da ist.«
Josef
Wir saßen wieder in diesem kleinen Raum, eine Schwester hatte uns mit Tee versorgt und uns auch etwas Gebäck hingestellt. Markus war schneeweiß im Gesicht, ich sah bestimmt auch nicht besser aus.
Ich blickte auf meine Armbanduhr, Mittenacht schon lange vorbei, es war Heiliger Abend.
24. Dezember 2000 4:30 Uhr
Markus
Wir waren wohl beide eingenickt. Der freundliche Pfleger rüttelte sanft an meiner Schulter.
»Herr Mendel, das Kind ist da, es ist ein Junge.«
Josef
Markus weckte mich auf. »Der Bub ist da«, seine Augen hatten wieder etwas Glanz bekommen. Es gab eine neue Aufgabe, wir mussten uns um die standesamtliche Registrierung der Geburt küm-mern.
Aber was war mit dem Vater. An Mosche hatten wir bei all der Aufregung nicht weitergedacht. Was war mit seiner Familie. Wir sollten doch bei seinem Bruder wohnen, nur hatte der sich bislang hier nicht blicken lassen, davon abgesehen, dass wir ihn nicht kannten.
Der Pfleger führte uns zur Säuglingsstation. Durch ein Fenster konnten wir den Knirps zum ersten Mal bewundern.
Markus
Ich hatte schon wieder sehr nah am Wasser ge-baut aber dieses Mal waren es Glückstränen, die über meine Wangen liefen.
»Weißt du welche Namen sich Katharina und Moshe ausgesucht hatten?«, fragte mich Josef.
»Nein, das sollte bis zur Geburt ihr kleines Ge-heimnis bleiben.«
»Vielleicht weiß es ja Mosches Bruder«, den müssen wir eh ausfindig machen, wir können ja nicht ewig hier in der Klinik bleiben», antwortete mir Josef.
Mist, daran hatte ich überhaupt keinen Gedanken verschwendet, zu sehr war ich im Schmerz um meine Schwester gefangen gewesen. Ich merkte, dass ich trotz all meiner Trauer langsam wieder zu funktionieren anfing. Es gab zu viel zu erledigen, meine Trauer musste warten.
Josef
Es war mittlerweile kurz vor 6 Uhr am Morgen, in Deutschland hätten wir um diese Zeit sicher noch selig schlummernd in den Federn gelegen.
Dies hier hatten wir uns auch anders vorgestellt. Innerhalb eines Tages war die Welt auf den Kopf gestellt worden. Warum nur passierten solche Dinge immer ausgerechnet an Weihnachten.
Mein Magen knurrte und eine Dusche hätte ich auch gut gebrauchen können. Noch standen uns-ere Koffer in dem kleinen Bereitschaftszimmer.
Ich nahm Markus an der Hand und gemeinsam liefen wir durch die stillen Gänge zurück.
Markus
Während Josef unter der Dusche stand versuchte ich meine Eltern telefonisch zu erreichen. Am Festnetz meldete sich niemand und bei beiden Handys sprang die Mailbox an. Ich hinterließ ihnen die frohe Botschaft in dieser dunklen Nacht, und machte mich auf den Weg zu meiner Schwester, nachdem ich Josef Bescheid gesagt hatte.
Kapitel 3 – Herbergssuche
Josef
Ich schaute kurz nach Markus, der am Bett seiner Schwester saß und ihre Hand hielt.
»Alles in Ordnung?«, sachte strich ihm übers Haar.
Er nickte nur, sein Schweigen sagte mehr, als er mit Worten hätte ausdrücken können.
»Ich lass‘ dich mal für eine Weile allein, versuche ein Hotelzimmer für uns zu bekommen.«
Wieder nur ein Nicken.
Nachdem ich das Zimmer verlassen hatte, brauchte ich erst einmal frische Luft und suchte den Ausgang. Als ich am Empfang vorbei lief kam mir der Gedanke dort nach einem Telefonbuch zu fragen und mir auch gleich eine Empfehlung geben zu lassen.
»Da werden Sie keine Chance haben, die Hotels sind seit Monaten ausgebucht und wenn nicht, dann sind die Preise astronomisch hoch«, bedau-ernd schüttelte die ältere Frau den Kopf.
»Und privat? Kennen Sie nicht jemanden, bei dem wir unterkommen könnten, gegen Bezahlung versteht sich?«, wagte ich mich zu fragen.
»Ich wüsste niemanden aber rufen Sie die Hotels an, vielleicht haben Sie ja Glück« antwortete sie und reichte mir das Telefonbuch.
»Setzen Sie sich ruhig hier an den freien Schreibtisch, das Telefon können Sie benutzen«, lächelte sie mich an.
Markus
Ich war wohl eingeschlafen und hatte von unserer Kindheit geträumt. Noch immer hielt ich Katharinas Hand.
Unsere Kindheit war glücklich, auch wenn unsere Eltern nicht sehr viel Zeit für uns gehabt hatten. Ich hatte ja von Anfang an eine Spielkameradin, die ersten 9 Monate zusammen auf engstem Raum verbracht, wenngleich ich logischerweise daran keine Erinnerung hatte.
Die Schwangerschaft war nicht geplant gewesen, eher ein Betriebsunfall, trotz Verhütung.
Unsere Mutter hatte ihr Studium unterbrochen um sich um uns zu kümmern, Vater baute derweil seine Praxis auf.
Er bezeichnete sich stets als Dorfarzt, dabei war er Internist, aber in der ländlichen Umgebung betrachteten seine Patienten ihn als erste Anlaufstelle, wo immer es zwickte.
Erst nachdem Katharina und ich aufs Gymnasi-um gewechselt waren, nahm unsere Mutter ihr Studium wieder auf und stieg dann einige Jahre später mit in die Praxis ein.
Josef
Nachdem ich mir vor der Klinik einige Minuten die Beine vertreten hatte, nahm ich das Angebot der Empfangsdame an und setzte mich an den Schreibtisch, der ihrem gegenüberstand.
Sie hatte mir freundlicherweise den Computer ihrer Kollegin hochgefahren, so dass ich auch im Internet nach einer Unterkunft suchen konnte. Schon der erste Versuch brachte mich auf den Boden der Tatsachen zurück, es schien wirklich kein einziges freies Zimmer zu geben.
Zum Telefonieren war es eindeutig noch zu früh, aber ich machte mir schon mal eine Liste mit den Telefonnummern der Hotels, die preislich überhaupt in Frage kamen. Das King David kam schon mal nicht in Frage, das lag weit außerhalb unseres Budgets. Mein Magen knurrte, kein Wunder, wir hatten seit Stunden nichts gegessen. Ich dankte der Empfangsdame und verließ das Krankenhaus auf der Suche nach einem Bäcker. Als ich durch die Straßen lief fiel mir ein, dass ich ja keinen einzigen Schekel im Geldbeutel hatte.
Markus
Schweren Herzens verließ ich meine Schwester, nicht ohne ihr vorher einen Kuss auf die Stirn zu hauchen, und machte mich nochmal auf den Weg zur Säuglingsstation.
Ich bat darum, meinen Neffen sehen zu dürfen.
»Wollen Sie ihn denn nicht auch mal halten«, fragte mich die noch sehr junge Krankenschwester.
»Ja klar, wenn ich das darf, natürlich«, antwortete ich und sah sie erwartungsvoll an. Sie wies auf einen Stuhl und verschwand, um den Kleinen zu holen. Wenige Augenblicke später hielt ich meinen Neffen zum ersten Mal im Arm. Die Augen waren geschlossen aber mit seiner kleinen Hand hielt er meinen Daumen fest im Griff.
Das war der Moment, in dem mir klar wurde, dass ich ihn anstelle seiner Mutter erziehen würde, komme da, was immer wolle.
Josef
Die Bäckerei konnte man schon von weitem riechen, der Duft nach frischen Backwaren waberte durch die Luft. Ich folgte einfach meiner Nase und stand kurze Zeit später vor dem kleinen Laden.
Ob ich denn auch in Deutscher Mark zahlen könnte, wollte ich von dem attraktiven, jungen Burschen wissen. Zum Glück verstand er mein Englisch, verneinte aber meine Frage, erklärte mir aber freundlicherweise den Weg zum Bank-automaten.
Dort stand ich vor dem nächsten Problem, ich hatte keinen blassen Schimmer wie das Ver-hältnis DM zum Schekel war. Ich beschloss es darauf ankommen zu lassen und wählte den Höchstbetrag, den das Display anzeigte. Kurze Zeit später stand ich wieder in dem kleinen Bäckerladen und war nun endlich in der Lage uns etwas Essbares zu kaufen.
Markus
Es war bereits 9 Uhr durch und wir saßen immer noch im Bereitschaftszimmer. Seit fast zwei Stunden telefonierte Josef mit den Hotels, keine Chance, alles ausgebucht.
»Wenn das so weitergeht, dann müssen wir es in Tel Aviv versuchen«, meinte er, als er wieder einmal den Hörer auflegte.
»Das ist viel zu weit weg«, ich schüttelte den Kopf.
»Was bleibt uns anderes übrig, hier können wir jedenfalls nicht bleiben«, brummelte Josef.
Ich wollte gerade antworten, als es an der Tür klopfte und nach meinem »herein« ein junger Mann den Raum betrat.
Er heiße Daniel und sei der Stellvertreter der Personalchefin, stellte er sich vor. Sie habe ihn gebeten, dass er sich um uns kümmere, bei allen Belangen.
»Sie schickt der Himmel«, spontan drückte ich ihn an mich und küsste ihn links und rechts auf die Wange.
»Dich schickt der Himmel«, antwortete er und wand sich aus meiner Umarmung. Ich schaute ihn betreten an, hatte ich ein Gebot übertreten, war ich ihm zu nahegekommen?
Josef
Daniel hatte wirklich der Himmel geschickt. Endlich hatten wir jemanden, der sich auskannte und die nötigen Verbindungen hatte.
»Unser größtes Problem ist momentan ein Hotelzimmer zu finden« wand ich mich an ihn.
»Das Suchen kannst du dir sparen, alles seit Monaten ausgebucht«, er schüttelte den Kopf. »Bestenfalls im King David, aber du weißt, dass das unser Vorzeigehotel ist, da logiert alles was Rang und Namen hat, beste Lage und teuerste Kategorie. Da wirst du, wenn überhaupt, kein Zimmer unter 3.000S Schekel bekommen«. »Wie viel ist das in unserer Währung, ich habe keine Ahnung wie der Wechselkurs steht?«
»Das sind so etwa 800 Deutsche Mark und ich weiß ja nicht, ob ihr so viel ausgeben könnt, Pardon wollt, wollte ich sagen?«
Buh, 800 Mark pro Nacht, da müsste ich auf das Firmenkonto zurückgreifen, sinnierte ich, als Daniel mit einem anderen Vorschlag kam.
»Wenn es euch nicht zu unbequem ist, dann könntet ihr bei uns unterschlüpfen«. Verdutzt schauten wir beide ihn an.
Markus
Als Daniel uns sagte, dass wir bei Ihnen wohnen könnten wäre ich ihm vor Dankbarkeit fast wieder um den Hals gefallen, konnte mich im letzten Moment gerade noch zusammenreißen.
»Weiß deine Familie von dem Angebot, was du uns da gerade unterbreitet hast?« wollte ich von ihm wissen.
»Wir sind nur zu zweit und mit Ben habe ich heute früh gesprochen, nachdem ich von Rebecca gebeten wurde, mich um euch zu kümmern!«!
»Ben?«, fragte ich.
»Ja, Ben. Euch sollte das doch nicht weiter stören, ihr gehört doch wohl auch zur Community?«
Daher wehte also der Wind, der Knabe spielte also in der gleichen Liga.
»Das stört uns in keiner Weise, ganz im Gegenteil. Ich hatte nur nicht erwartet, ausgerechnet hier in Bethlehem auf Schwule zu treffen«, antwortete ich und nahm ihn dann doch in den Arm, um ihn herzhaft zu drücken.
Josef
Eine Sorge weniger, wir hatten eine Bleibe, al-lerdings brauchten wir auch für Markus Eltern noch ein Zimmer.
»Daniel, du hilfst uns in einer wirklich schwierigen Lage, ich weiß gar nicht wie ich dir danken soll«. Auch ich hatte ihn mittlerweile in den Arm genommen und drückte ihm ein Küsschen auf die Wange.
»Ihr hättet doch sicher das Gleiche getan, wenn ich in München gestrandet wäre?« Er hatte sich aus meiner Umarmung befreit und schaute uns fragen an.
»Klar, hätten wir«, kam es unisono von uns bei-den.
Die Frage was wir mit Markus Eltern machen sollten erübrigte sich, denn just in diesem Au-genblick läutete Markus‘ Handy.
Markus
»Mama, endlich, wo seid ihr, warum meldest du dich denn nicht. Papa geht auch nicht ran«, ich machte meinem Unmut richtig Luft.
Einen Augenblick später liefen mir bereits wieder die Tränen und ich war kaum noch in der Lage weiterzureden. Hilflos reichte ich das Handy an Josef weiter.
Josef
Um Himmels willen, was war jetzt wieder passiert. Markus war kreidebleich, ein heftiger Weinkrampf hatte ihn erfasst, kaum dass er mir das Telefon in die Hand gedrückt hatte.
Von Irene erfuhr ich dann, dass Bern im Flugzeug einen Schlaganfall erlitten hatte.
Der Pilot hatte sofort den nächsten Flughafen angesteuert und nun lag Bernd in Sofia im Alexandrovska, der Uniklinik. Sein Zustand war stabil, aber er war halbseitig gelähmt.
Diese Baustelle war noch eine Nummer größer. Nicht nur, dass wir auf die Unterstützung der Eltern verzichten mussten, ganz im Gegenteil, jetzt brauchten auch sie unsere Unterstützung.
Aber eine Katastrophe kommt selten alleine.
Markus
Ich floh zu meiner Schwester an ihr Krankenbett, flehte sie an, aufzuwachen, uns nicht im Stich zu lassen, vergebens, sie hörte mich nicht, würde mich nie wieder hören.
Man hatte mein Lamento wohl bis zum Schwes-ternzimmer gehört, es dauerte nur wenige Mi-nuten bis eine Schwester mich zusammen mit einem Arzt aus dem Zimmer holte.
Sie wollten mir eine Beruhigungsspritze verpas-sen aber dagegen konnte ich mich gerade noch wehren, auch weil Josef und Daniel in diesem Moment auftauchten.
Josef
Zusammen mit Daniel konnte ich den Arzt, den wir bisher noch nicht gesehen hatten, davon überzeugen, dass Markus nicht sediert werden musste. Als der Doc hörte, was alles in den letzten zwei Tagen passiert war, nickte er nur mit dem Kopf.
Wir waren uns schnell einig, dass es das Beste war, wenn wir das Krankenhaus verlassen und zu Daniels Wohnung fahren würden.
Allerdings musste vorher noch die Geburt beim Standesamt registriert werden. Der Junge brauchte einen Namen.
Markus
Mit einer Taxe brachte uns Daniel zu seiner Wohnung in der Altstadt von Jerusalem. Die Wohnung war nicht sehr groß, hatte aber drei Räume, so dass wir den beiden nicht unbedingt auf den Wecker gehen würden. Lange wollte ich hier eh nicht bleiben.
Wir hatten versucht, die Geburt im Krankenhaus registrieren zu lassen, aber da tauchten schon die nächsten Probleme auf. Mit einem Namen allein war es nicht getan, welche Staatsangehörigkeit sollte der Knabe bekommen. Für mich stand fest, dass da ja wohl nur die Deutsche in Frage kam. Das sah die ältere Dame in der Registratur aber ganz anders.
»Laut meinen Unterlagen ist ihre Schwester Katharina konvertiert, der Junge hat somit eine jüdische Mutter und da er hier geboren ist auch automatisch die israelische Staatsbürgerschaft« beschied sie mir.
Josef
Eine Katastrophe jagte buchstäblich die andere. So hatten wir uns unser Weihnachtsfest nicht vorgestellt.
Jetzt mussten wir auch noch klären welche Staatsbürgerschaft der Junge bekommen sollte. Da konnte uns nur die Botschaft weiterhelfen. Ich würde das Übernehmen, würde versuchen, dort von jemandem eine Auskunft zu bekommen. Es war zwar Heiliger Abend aber in Israel ein gewöhnlicher Arbeitstag.
Leider erreichte ich nur einen Mann in der Telefonzentrale, der mir beschied, dass die Botschaft bis ins neue Jahr nur mit einer Not-besetzung arbeite und er keinen fände, mit dem er mich verbinden könnte.
Was mit dem Botschafter sei, wollte ich wissen, ob dieser denn im Land sei.
Markus
Während sich Josef um die Klärung der Staats-bürgerschaft kümmerte, hatte ich erneut mit meiner Mutter telefoniert. An eine Weiterreise war nicht zu denken. Sie würden solange in Bulgarien bleiben müssen, bis mein Vater so stabil war, dass sie die Heimreise antreten konnten. Wie lange das dauern würde wusste niemand.
Ich fragte behutsam, ob sie etwas von Katharinas Konversion wusste, was nicht der Fall war.
Auch von einer Patientenverfügung wusste sie nichts.
So schwer es mir fiel aber das Thema musste angesprochen werden, Katharinas Zustand und wie es weitergehen sollte.
»Markus, bitte, triff du diese Entscheidung, du bist ihr Zwilling, stehst ihr damit noch näher als ich es tue«.
»Mama, was verlangst du da von mir?«
Wie sollte das noch weitergehen. Ich wusste nur, wir mussten zurück zur Klinik.
Josef
Schließlich erfuhr, ich das der Botschafter zu einem Empfang hier in Jerusalem war, im King David.
Der Empfang sollte am frühen Abend stattfinden, der Botschafter war aber bereits gegen elf Uhr losgefahren und sollte wohl auch schon in Jerusalem sein.
Also versuchte ich mein Glück im King David. Die, der Stimme nach zu urteilen, junge Dame war sehr professionell und beschied mir, dass sie generell keine Auskünfte über Hausgäste geben würden.
Aber sie hörte mir immerhin zu, und nachdem ich ihr unsere missliche Lage erklärt hatte, war sie bereit, dem Botschafter eine Nachricht zukommen zu lassen.
Jetzt hieß es wieder einmal warten.
Markus
Warten konnten wir auch in der Klinik. Mit dem Taxi ging es zurück in die Heilige Familie. Zu-nächst schauten wir in das Zimmer meiner Schwester, wo sich nichts verändert hatte.
Katharina lag in ihrem Bett und wurde nur durch die künstliche Beatmung am Leben erhalten.
Bevor wir mit dem Chefarzt sprachen, wollte ich aber erst meinen Neffen sehen.
In der Säuglingsstation standen zwei Männer mit Bärten, Schäferlocken und in schwarzen Anzügen gekleidet, vor dem Fenster zum Säuglingszimmer. Wahrscheinlich war einer von ihnen gerade Vater geworden. Aber sie blickten sehr ernst und sahen so gar nicht glücklich aus.
Als wir näher traten sprach mich einer der beiden an.
»Sind Sie Herr Mendel?« Ich nickte und noch bevor ich etwas darauf sagen konnte, sprach er schon weiter »ich bin Aron Weizmann, und das ist mein Bruder Schmuel.«
»Mein Beileid«, ich reichte beiden die Hand.
»Unser Vater konnte nicht persönlich kommen, er kann das Haus nicht verlassen, die Trauerzeit für Mosche ist noch nicht vorbei«, erklärte mir Schmuel. »Wir sind hier um zu klären, wann wir Jonathan nach Hause holen können, damit die Brismile in der vorgeschrieben Zeit erfolgen kann.«
Jonathan, Brismile, von was sprachen sie?
Josef
Jonathan, Brismile, wer war Jonathan und was der die das Brismile.
»Das Kind, dass Ihnen die Schwester da zeigt, ist nicht Jonathan« wand ich mich an die Beiden.
»Wer sind Sie?«, wollte der Mann, der sich uns als Aron vorgestellt hatte, von mir wissen.
»Ich heiße Josef Heiland und bin der Lebensge-fährte von Herrn Mendel.« Seiner Mimik war nicht zu entnehmen, ob ihm das gefiel.
Er wandte sich an Markus und erklärte »dieses Kind ist das Kind meines Bruders und Ihrer Schwester. Wie die Familie erfahren hat, wollten Sie den Knaben unter dem Namen Michael und mit deutscher Staatsbürgerschaft beim Standesamt registrieren lassen!«
»Was geht‘ sie das an?«, mischte ich mich in die Unterhaltung ein.
»Sehr viel, im Gegensatz zu Ihnen!«, seine Augen blickten zornig.
Nun wurde auch Markus aggressiv und verlangte zu wissen wie sie auf die Idee kämen, dass sie dem Kind einen Namen geben und es zu sich nach Hause holen könnten.
Als er aber erfuhr was mit Brismile gemeint war, rastete er vollkommen aus.
»Raus hier, verschwindet, lasst euch hier nie mehr blicken!«, er tobte wie eine Furie worauf sogleich jemand vom Sicherheitsdienst auf der Bildfläche erschien.
Markus
Jetzt war das Fass übergelaufen. Wäre der Sicherheitsdienst nicht eingeschritten, wäre ich den beiden an die Gurgel gegangen.
Meinem Neffen würde man weder den Namen Jonathan verpassen und gleich gar nicht am Pimmel rumschnippeln.
»Legen Sie sich nicht mit uns an, Sie wissen nicht wer wir sind und wie weit unser Einfluss reicht« zischte Aron und verließ mit seinem Bruder die Station.
»Woher wissen die das mit dem Namen und der Staatsbürgerschaft?«, Josef sah mich fragend an.
»Sag du es mir.« »Du bist der Journalist, ich nur ein einfacher Tischler und Zimmermann.«
Mittlerweile stand auch der Direktor des Kran-kenhauses bei uns.
»Hören Sie, so geht das nicht, Sie bringen hier eine Menge Unfrieden in diese Klinik.«
»Wer bringt hier Unfrieden?« begehrte ich auf. »Meine Schwester ist hirntot, das Kind ist laut Standesamt israelischer Staatsbürger und keiner kann mir sagen, was ich machen muss, um mit dem Kind das Land zu verlassen. Ganz abgesehen davon, dass ich eine Entscheidung bezüglich meiner Schwester treffen muss und meine Eltern ausfallen, da mein Vater auf dem Flug hierher einen Schlaganfall erlitten hat und in Sofia im Krankenhaus liegt«, machte ich meinem Ärger Luft.
Josef
Die Situation wurde brenzlig. Wir kannten die Weizmanns nicht, aber ich glaubte den Droh-ungen, die Aron ausgestoßen hatte.
Wir brauchten unbedingt den Botschafter. Wenn er nicht zurückrief, dann musste ich ihn eben bei seinem Empfang stören. Der Mann wurde schließlich von Steuergeldern bezahlt und Steuern zahlte ich nicht gerade wenig.
Den Taxifahrer bat ich, erst zur Wohnung von Daniel zu fahren und mich anschließend ins King David zu bringen.
Dort wollte man mich nicht zu dem Empfang vorlassen, aber man war immerhin bereit einen Boten mit einer Notiz von mir zu dem Botschafter zu schicken. Es dauerte eine ganze Weile bis der Bote zurückkehrte und mir einen Zettel zusteckte.
»Bitte warten Sie in der Lobby, ich bin in etwa einer halben Stunde bei Ihnen.«
Na also, geht doch, dachte ich und sah mich nach einer Sitzgelegenheit um.
Markus
Die Klinik rief an, der Chefarzt drängte zu einer Entscheidung.
Ich rief Josef an und bat ihn nach seinem Treffen mit dem Botschafter zur Klinik zu kommen.
Daniel begleitete mich zurück zur Klinik. Den Zugang zur Säuglingsstation blockierte ein Gorilla im schwarzen Anzug, mit Hut und Schäferlocken. Was sollte das? Daniel nahm mich sachte am Arm und drängte mich Richtung Wöchnerinnenstation.
Als wir außer Hörweite waren ließ er mich wieder los und meinte nur »das macht keinen Sinn, der lässt dich da nicht rein, wir müssen uns etwas anderes überlegen.«
Noch bevor ich das Zimmer meiner Schwester erreichen konnte, hatte mich ein Pfleger entdeckt und brachte mich direkt zum Chefarzt.
Josef
Das Gespräch mit dem Botschafter hatte nicht wirklich etwas gebracht. Zwar hatte er mir ver-sprochen, alles in die Wege zu leiten, damit uns geholfen wurde, aber zuhause wurde Weihnach-ten gefeiert, ad hoc jemanden aus dem Hut zu zaubern, dazu war selbst er in seiner Position nicht im Stande.
Markus fand ich diskutierend mit dem Chefarzt. Dieser versuchte ihm klarzumachen, dass ihm die Hände gebunden seien, er brauche ein amtliches Dokument, eine mündliche Erklärung eines nahen Verwandten reiche in diesem Fall nicht aus.
Auf meine Frage, was passiert sei, erklärte mir der Arzt, dass sich Familie Weizmann eingeschaltet und ihm verboten habe, die Apparaturen abzuschalten.
»Was geht die Weizmanns das an?« wollte ich wissen.
»Die Patientin war ihre Schwiegertochter in spe und ist die Mutter ihres Enkels. Ihre religiöse Einstellung verbietet es, sie muss eines natür-lichen Todes sterben.«
»Aber das tut sie doch, wenn sie die Beatmung abschalten« warf ich ein.
»Auch wenn ich ihnen Recht geben muss, ich kann es nicht tun, die Weizmanns sind zu ein-flussreich.«
Markus
Das war einfach zu viel. Ich sagte dem Arzt, dass ich zu meiner Schwester wolle, stand auf und verließ den Raum.
Es war viel Betrieb auf der Station, es mussten eine Reihe neuer Patienten aufgenommen worden sein.
Katharina lag nicht mehr allein in ihrem Zimmer, man hatte ein weiteres Bett dazugestellt, abgeschirmt durch eine spanische Wand.
Ich nahm mir einen Stuhl, setzte mich zu ihr und grübelte, wie es weitergehen sollte.
Diese verdammte Familie Weizmann. Was hatte Katharina bewogen in eine solche Sippschaft einheiraten zu wollen?
Als die Tür geöffnet wurde, dachte ich Josef käme, aber stattdessen betrat ein gutaussehender junger Mann das Zimmer.
Er reichte mir seine Hand und sagte »Hallo, ich bin Eli, du musst Katharinas Bruder Markus sein.« Ich nickte und sah ihn fragen an. »Ich bin Mosches jüngerer Bruder.«
»Schon wieder ein Weizmann« stöhnte ich. »Keine Angst, ich trage zwar diesen Familiennamen, habe aber mit der Sippe wenig am Hut. Ich bin eines der schwarzen Schafe der Familie.«
Josef
Ich hatte den Arzt gefragt, wie es denn nun weitergehen solle und erfuhr, dass die Weizmanns Katharina zu sich nehmen wollten, eine Pflegerin würde sich um sie kümmern. Geld spielte keine Rolle, davon hatten sie reichlich.
Er gab mir den Rat, Israel baldmöglichst zu verlassen, dies sei für alle Beteiligten das Beste. Offenbar hatten die Weizmanns ihn mächtig unter Druck gesetzt.
Nachdem Gespräch brauchte ich erst einmal frische Luft und vertrat mir vor der Klinik für einige Minuten die Beine.
Als ich in Katharinas Zimmer kam, sah ich, dass Markus dort nicht allein mit ihr war. Nicht nur, dass eine weitere Patientin dort untergebracht war, nein ein hübscher junger Mann unterhielt sich angeregt mit Markus.
Eli hieß er und war Mosches jüngerer Bruder, schwarzes Schaf der Familie und stand voll auf unserer Seite.
Markus
Als Josef mir sagte, dass die Weizmanns Ka-tharina zu sich nach Hause holen und dort pfle-gen wollten, sah ich Eli fragend an.
»Ich weiß, was du fragen willst. Ja, sie können das, wenn sie es wollen. Mein Vater, ach was, diese ganze Sippschaft ist sehr einflussreich und leider, bis auf wenige Ausnahmen, auch total verblendet, wenn es um Adonai und seine ‚Gesetz‘« geht, redete sich Eli nun in Rage.«
Das war der Augenblick, wo ich nicht nur die Entscheidung zu treffen hatte, nein ich musste selbst aktiv werden.
Ich küsste meine Schwester, stand auf, trat zu den Apparaturen und schaltete ein Gerät nach dem anderen aus. Ein schrilles Piepen setzte ein und dann waren wir auch schon umringt von Pflegern und Ärzten.
Kapitel 4 – Flucht
Josef
Es herrschte ein geordnetes Chaos. Die Pfleger und Ärzte drängten uns aus dem Zimmer. Ich nahm Markus in den Arm, den ein heftiger Weinkrampf schüttelte.
Eli drängte darauf, die Klinik zu verlassen, und meinte »es wird nicht lange dauern bis die Schäferlocken hier auftauchen, um den Leichnam abzuholen!« Markus hatte das zum Glück nicht gehört.
»Wir können jetzt nicht einfach abhauen, damit machen wir uns doch alle verdächtig.«
Wir hätten auch gar nicht gehen können, denn genau in diesem Augenblick kam der Oberarzt aus dem Krankenzimmer und trat zu uns.
»Herr Mendel, bitte, wir müssen uns unterhalten«, tröstend strich er Markus über den Kopf.
»Am besten sie kommen alle drei mit zu unserem Chef!«
Kurze danach saßen wir zu fünft in dem wirklich nicht großen Zimmer des Chefarztes.
Markus
Ich hatte sie umgebracht, ich hatte Katharina, meiner Zwillingsschwester das Leben genommen, nichts anderes konnte ich denken. Nun saßen wir in diesem engen Zimmer und die Fragen prasselten auf mich ein, ohne dass ich sie sortieren, geschweige denn beantworten konnte.
»Herr Mendel, was um alles in der Welt ist passiert, wieso haben Sie die Apparate abgeschaltet?« »Gibt es eine Vollmacht, können wir die Organe entnehmen?« Ich war unfähig zu antworten. Josef sprang mir bei.
»Plötzlich zeigte der Herzmonitor eine durch-gehende Linie und das schrille Piepen setzte ein« begann er, wurde aber in seiner Rede vom Oberarzt unterbrochen.
»Das ist doch kein Grund die Geräte abzuschal-ten. Wenn der Kreislauf zusammenbricht, dann können wir die Organe nicht mehr verwenden!«
Jetzt schaltete sich auch Eli in die Unterhaltung ein.
»Die hätten Sie eh nie bekommen. Wer von Ihnen hat denn der Verlegung in das Haus meines Vaters zugestimmt?« wollte er wissen. Daraufhin senkte der Chefarzt schuldbewusst den Kopf.
Josef
Ich hörte nur wie Markus leise stammelte »ich konnte es einfach nicht mehr ertragen. Katharina ist meine Zwillingsschwester, sie so leiden sehen zu müssen und dann dieser Hickhack…«
Wir brauchten den Botschafter. Er war der einzige, der mir einfiel, der uns in dieser Situation helfen konnte.
Ich schaute die Ärzte an »Sie entschuldigen uns bitte, wir müssen uns jetzt um die Beerdigung kümmern«, erhob mich von meinem Stuhl und schob Markus zur Tür.
Eli war ebenfalls aufgestanden und hatte die Tür bereits geöffnet als Markus sich nochmal den Ärzten zuwandte und dieses Mal mit festerer Stimme sagte »entnehmen Sie die Organe, wenn es noch nicht zu spät ist, es gibt wohl keine Verfügung und unsere Mutter hat mir diese Entscheidung überlassen. Katharina war mit Leib und Seele Ärztin, sie wollte Leben retten, es ist mit Sicherheit in ihrem Sinn!«
Markus
Wir gingen noch einmal auf die Säuglingsstation, um den Kleinen wenigstens sehen zu können. Eine sehr resolute, ältere Schwester wollte ihn uns jedoch zunächst nicht zeigen, wurde aber zugänglicher nachdem Eli sich als zum Weizmann Clan zugehörig zu erkennen gegeben hatte.
Daniel hatte die ganze Zeit auf uns gewartet und sah mich fragend an.
»Meine Schwester ist tot. Ich muss hier raus, können wir zu dir?« ich sah ihn fragend an.
»Ja klar, auch wenn es meinem Freund nicht passt. Ich habe versprochen euch helfen«, er nickte und setzte sich in Bewegung Richtung Ausgang.
»Ich habe da eine bessere Idee«, mischte Eli sich ein. »Ihr kommt mit mir nach Tel Aviv. In meiner Wohnung ist genug Platz und ihr habt eure Botschaft vor Ort.«
»Und du hast keine Familie, der wir im Wege sind?« fragte Josef.
»Die einzige Familie, die sich daran gewaltig stören dürfte, ist meine eigene Sippschaft aber die können mich allemal gewaltig im Mondschein besuchen« erhielten wir als Antwort.
Josef
Nachdem wir unser Gepäck bei Daniel abgeholt und uns auch bei seinem Partner nochmals für die Gastfreundschaft bedankt hatten, erfuhren wir auf der Fahrt von Jerusalem nach Tel Aviv von Eli einiges über den Weizmann Clan.
Schon sein Urururgroßvater war Diamanten-händler gewesen, in Antwerpen, und schon in der dritten Generation war aus dem kleinen Handel ein wichtiges Handelshaus geworden. Mittlerweile war es ein weltumspannendes Imperium.
Wie bei orthodoxen Juden üblich, waren es große Familien und alle männlichen Familienangehörige wurden mit Posten versehen, gründeten neue Niederlassungen und mehrten den Reichtum.
Als die Nazis in Europa wüteten, hatten die Weizmanns rechtzeitig Lunte gerochen und ihre Besitztümer in die Staaten und nach Südamerika gebracht.
Nach der Gründung des Staates Israel war sein Großvater mit einem Teil der Familie nach Israel emigriert.
Markus
Mein Gott, was für ein Clan. Wie sollte man gegen so eine Familie mit ihren vielen Verbindungen bestehen können, fragte ich mich?
»Eli, darf ich dich mal fragen was dich zum schwarzen Schaf innerhalb der Familie gemacht hat?«.
»Markus, kannst du dir das nicht denken?«, er fuhr zügig und konnte mich nur über den Rückspiegel kurz ansehen.
»Ich bin alles andere als gläubig, habe mich un-abhängig gemacht und lebe auch noch im Sündenbabel Tel Aviv«.
»Wieso Sündenbabel?«, wollte Josef wissen.
»Nun, in Jerusalem betet man und in Tel Aviv geht die Post ab, ihr werdet es schon sehen«, mehr sagte er nicht, konzentrierte sich stattdessen auf den dichter werdenden Verkehr kurz vor Tel Aviv.
Gut eine halbe Stunde später parkte er den Wagen in der Tiefgarage einer mehrgeschossigen Wohnanlage. Der Lift brachte uns in die obere Etage, wo man von den Fenstern aus, einen herrlichen Blick über die Stadt und den Strand hatte.
»Da kommt Josh«, sagte Eli, als die Tür sich öffnete und ein, geschätzter, Enddreißiger die Wohnung betrat.
»Hallo Schatz, schön dass du schon da bist. Das sind Markus und Josef« stellte er uns vor.
Josef
Josh gab uns nicht einfach nur die Hand, er nahm uns beide in die Arme und küsste uns rechts und links auf die Wange.
»Schön, dass ihr hier seid, willkommen in unserer bescheidenen Hütte.« Ein Lächeln lag auf seinen Lippen, als er dies sagte.
»Ich hätte mir solch einen Luxus nie leisten können, aber Eli braucht den Schekel nicht zweimal umdrehen«, er nahm seinen Freund in den Arm und küsste ihn zärtlich.
»Danke, Josh, danke für die liebe Begrüßung. Dass wir herzlich willkommen sind spüren wir, nicht wahr Markus«, wandte ich mich meinem Schatz zu.
»Ja, ja natürlich, sorry Leute aber mir brennen ein paar Dinge unter den Nägeln. Ich muss meine Mutter in Sofia anrufen. Ich weiß gar nicht wie ich ihr beibringen soll was ich gemacht habe«, sagte Markus.
»Und ich muss den Botschafter erreichen, er muss uns helfen mit der Kremation und der Überführung der Urne nach Deutschland« be-merkte ich.
Eli und Josh sahen sich an. Als Eli nickte, fing Josh zu sprechen an »es gibt kein Krematorium in Israel…«
Markus
Ich glaubte mich verhört zu haben.
»Wie bestattet ihr dann eure Toten?« fragte ich.
»Nach jüdischem Glauben ist der Körper nur von Gott geliehen«, Eli zuckte bedauernd mit den Schultern. »Wahrscheinlich haben Sie deine Schwester eh schon geholt und ins Waschhaus gebracht«.
»Was heißt das?« ich verstand die Welt nicht mehr.
»Das heißt es, dass es nur Erdbestattungen gibt, im ewigen Grab. Dort warten die Verstorbenen auf die Ankunft Adonais«, belehrte mich Eli.
»Ich weiß nur nicht, wer das Kaddisch sprechen wird. Das macht traditionell der nächste männliche Verwandte und das wärst ja du«, Eli sah mich fragend an.
»Das Kaddisch ist das Totengebet. Das Thema ist zu umfangreich, um es ist jetzt in allen Facetten zu beleuchten, ich versuche mal herauszufinden, was die Familie vorhat« sagte er und tippte im selben Augenblick schon eine Telefonnummer in sein Handy.
Josef
Der Botschafter war alles andere als erfreut, als ich mich erneut bei ihm meldete und die neue Situation darlegte. Natürlich berichtete ich ihm nicht, dass Markus die Geräte abgeschaltet hatte.
Er verwies mich an die hiesigen Bestattungs-unternehmen, diese könnten mir sicherlich weiterhelfen.
Warum nur beschlich mich so eine Ahnung, dass er uns gar nicht helfen wollte?
Eli hatte sein Gespräch beendet und brachte uns auf den Stand der Dinge.
»Katharinas Leichnam sollte von der Chewra Kadisha abgeholt und für die Beerdigung vorbe-reitet werden, sobald die Organe entnommen waren.
Chaim Weizenbaum hatte wohl einen Tob-suchtsanfall bekommen, als er vernommen hatte, dass Markus der Organentnahme zugestimmt hatte.
Katharina sollte in einem Grab direkt neben Mo-she ihre letzte Ruhe finden. Damit Jonathan, sobald er alt genug war, die Gräber seiner Eltern besuchen konnte. All diese Informationen hatte er von seinem Bruder Ilan erhalten, der, genau wie er, zu den schwarzen Schafen der Familie gezählt werden konnte, aber einen sehr guten Draht zu den Frauen, seiner beiden ältesten Brüdern hatte.
Und dann schlug die Bombe ein.
»Sie verdächtigen Markus, die Geräte abgeschaltet zu haben, sie glauben nicht an den Herzstillstand« erklärte Eli. »Aaron hat sich mit dem Polizeichef in Verbindung gesetzt. Sie wollen, dass die Angelegenheit untersucht wird. Markus, es wird Zeit für dich das Land schnellstens zu verlassen!«
Markus
Verdammte Scheiße. Hier lief alles schief was schieflaufen konnte.
Ich hatte meine Schwester umgebracht, um sie nicht dieser Familie zu überlassen. Und jetzt das. Ich sah Josef an »was machen wir?«
»Eli hat Recht, du musst ganz schnell hier weg, am besten mit dem Auto irgendwo über eine Wald- und Wiesengrenze«. Markus hatte mich in den Arm genommen und mein Kinn angehoben, so dass ich ihm in die Augen sehen musste. »Vertrau mir, ich bringe Michael mit, das verspreche ich dir«.
»Aber wie denn, er ist ja noch nicht einmal standesamtlich gemeldet?«
Nun mischte sich auch Eli wieder in unsere Un-terhaltung ein.
»Ich weiß gar nicht, wie ich dir, euch das sagen soll«, traurig blickte er uns an, »das Standesamt hat den Jungen auf den Namen Jonathan Mendel, Religion Jude und Staatsbürgerschaft Israel registriert.
Ich musste das Gehörte erst einmal verdauen. Ich zitterte in Markus Armen wie Espenlaub.
«Und es gibt noch ein Problem» mischte sich nun auch Josh ein, »Israel kann man nur auf dem Luftweg verlassen. Alle Landesgrenzen sind dicht.«
Josef
Jetzt hieß es schnell handeln.
»Rufe deine Mutter an und sage ihr, dass du mit der nächsten Maschine, in der du einen Platz bekommst, nach Sofia kommst. Erkläre nichts am Telefon, wer weiß, wer da alles mithört.«
»Ich kümmere mich um den Flug«, kam es von Josh, »wozu hat man Beziehungen?«
Markus zitterte immer noch. Ein Nervenbündel, wie er war, würde er am Flughafen sicher die Aufmerksamkeit sämtlicher Wachleute erregen.
Eine gute Stunde später saßen wir in Elis Wagen und waren auf dem Weg zum Flughafen.
Josh hatte, wie auch immer, einen Platz bekom-men und Hin- sowie Rückflug gebucht.
»Wozu das Rückflugticket?«, ich sah in fragend an.
»Damit wir weniger Aufmerksamkeit erregen, falls man schon damit begonnen hat, die Flughäfen zu überwachen. Sie werden ihr Augenmerk erst einmal auf Oneway Tickets richten.«
Woher wusste er das. Was machte er beruflich? Der Mann war mir ein Rätsel. Ich wollte gerade danach fragen, als Eli uns erklärte, dass Josh bei einer Regierungsstelle arbeite, aber zur Geheimhaltung verpflichtet sei.
Markus
Es war alles so surrealistisch, ich saß auf einem Fensterplatz und schaute auf das Meer unter mir.
Die Ausreise war problemlos vonstattengegangen. Nur einreisen würde ich nicht mehr können, dann drohte mir die Verhaftung.
Ich würde mich zu dem was ich getan hatte be-kennen, aber nicht vor einem israelischen Richter.
Mochten die deutschen Behörden tätig werden.
Josef
Markus war in Sicherheit. Er hatte eben ange-rufen, dass er im Krankenhaus angekommen war.
Jetzt stand ich vor der Herausforderung mit dem Jungen das Land zu verlassen, besser gesagt, erst einmal an den Knaben heranzukommen.
Ich hatte ja die denkbar schlechtesten Chancen, war ein absoluter Fremder, gehörte offiziell nicht zu Markus Familie.
Die Botschaft konnten wir auch abschreiben, da würde keiner einen Finger krumm machen, um uns zu helfen. Blieben also nur Eli und Joshua, Ilan, den ich nicht kannte und Daniel, dessen Freund eh nicht auf unserer Seite stand.
Markus
Meinen Vater so zu sehen brach mir fast das Herz. Papa war immer so vital und sportlich gewesen und lag nun halbseitig gelähmt und nahezu apathisch in einem Zimmer, zusammen mit zwei weiteren Patienten.
Ich war direkt nach der Ankunft vom Flughafen aus zur Klinik gefahren.
Meine Mutter sah zum Fürchten aus, dunkle Ringe unter ihren Augen zeugten davon, dass sie schon lange nicht mehr erholsam geschlafen hatte.
Papa schlief, Mama und ich hielten uns lange in den Armen, weinend.
Ich konnte sie schließlich überzeugen, sich für einige Stunden ins Hotel zurückzuziehen und sich hinzulegen, aber erst, nachdem ich ihr ver-sprochen hatte, Papa noch nichts vom Tod meiner Schwester zu erzählen.
Bevor ich mich zu Papa ans Bett setzte, brachte ich sie zur U-Bahn und rief dann Josef an.
Josef
Markus hatte sich ja unmittelbar nach der Lan-dung bei mir gemeldet, so dass ich beruhigt sein konnte, dass er sicher in Bulgarien angekommen war.
Bei unsrem zweiten Telefonat berichtete er mir vom Zustand seines Vaters und das er seine Mutter zum Schlafen ins Hotel geschickt hatte. Er würde am Bett seines Vaters Wache halten.
Das machte mir dann doch wieder Sorgen, er war selbst übermüdet und brauchte dringend Schlaf.
Zur Abwechslung konnte ich ihm aber mal etwas positives berichten.
»Schatz, wir sind einen kleinen Schritt weiter, wir haben eine beglaubigte Kopie der Geburts-urkunde.«
»Wow, wie seid ihr darangekommen?« hörte ich die vertraute Stimme.
»Ich sage nur Daniel. Wir haben ihn wohl falsch eingeschätzt, uns zu sehr auf seinen Freund konzentriert und unterstellt, dass Daniel dessen Meinung zu seiner eigenen machen würde.«
»Und es gibt noch eine gute Nachricht, der Kleine hat auch die deutsche Staatsbürgerschaft.«
»Kaum bin ich außer Landes und schon kommt Bewegung in die Sache« kam es wesentlich hei-terer aus dem Hörer.
Diese beiden Nachrichten hatten wohl einen Endorphin Kick bewirkt.
Wir redeten noch eine ganze Weile, wobei jeder dem anderen versprach, immer für ihn da zu sein und wo wir auch, seitdem wir unsere Reise angetreten hatten, davon sprachen, wie sehr wir uns begehrten.
Markus
Als ich dann am Bett meines Vaters saß und die vergangenen Tage Revue passieren ließ, merkte ich erst, wie müde und zerschlagen ich war.
Ich musste wohl eingeschlafen sein, eine Hand strich mir zärtlich über die Wange. Als ich die Augen aufschlug blickte ich in das Gesicht meines Vaters. In seinen Augen standen Tränen.
»Nicht weinen Papa. Alles wird gut«, redete ich ihm zu. Dann gab ich ihm einen Kuss und setzte mich aufrecht.
Die Artikulierung fiel ihm noch schwer und man-che Worte fielen ihm nicht ein, aber es reichte aus, um ein Gespräch zu führen.
Vergessen waren all die Missverständnisse der Vergangenheit. Dafür war auch keine Zeit mehr.
Jetzt hieß es nach vorne zu schauen.
Ob die Ärzte denn schon eine Prognose hin-sichtlich der Lähmung abgegeben hätten, wollte ich von ihm wissen. Dazu konnte er mir jedoch nichts sagen.
Wir, besser gesagt ich, redete lange, sehr lange und vergaß dabei die Zeit.
Erst als die Tür geöffnet wurde und ich den Kopf meiner Mutter sah, merkte ich wie spät es war.
Nachdem sie meinen Vater zur Begrüßung ge-küsst hatte, blickte sie mich fragend an und meinte, nachdem ich leicht den Kopf geschüttelt hatte »Markus, du siehst furchtbar aus. Du nimmst dir jetzt ein Taxi, fährst ins Palace und schläfst dich aus. Ich habe dir ein Zimmer reserviert und melde mich bei dir, wenn ich zu-rück bin. Dann reden wir!«
26. Dezember 2000
Josef
Mit einer steinharten Erektion wachte ich auf. Ich hatte von Markus geträumt, es war ein sehr erotischer Traum gewesen. Schon merkwürdig, da flog einem die Welt um die Ohren aber das Unterbewusstsein fand immer noch Zeit positives an die Oberfläche zu holen.
Ich schickte ein kurzes Dankgebet zum Himmel. Wäre Markus hier und ich hätte ihm davon er-zählt, dann wäre wieder ein ironisches Lächeln in seinem Gesicht gestanden.
Das ist der große Unterschied zwischen uns beiden, Markus ist überzeugter Atheist und ich renne zwar die Kirche nicht über den Haufen, bin aber gläubiger Katholik.
Mit dem katholisch sein, das hat sich so ergeben, meine Mutter war evangelisch, mein alter Herr ist katholisch. Als die beiden heirateten kam in Bayern nur eine Konfession für mich in Frage.
Die Wohnung war leer, Eli und Josh mussten arbeiten. Ich fand einen Zettel auf dem Küch-entisch, in dem sie ankündigten, mich abends mit in eine Bar mitnehmen zu wollen.
Nachdem ich geduscht und mir einen Kaffee gemacht hatte, nahm ich mein Handy und rief Markus in Sofia an.
Markus
Das Vibrieren meines Handys machte mich auf den Eingang eines Gespräches aufmerksam.
Mama und ich saßen gerade mit dem Stations- und dem Oberarzt zusammen, um abzuklären wie es mit der Behandlung meines Vaters weitergehen sollte.
Ich sah auf dem Display, dass Josef mich er-reichen wollte, entschuldigte mich kurz und verließ das Zimmer um das Gespräch anzuneh-men.
»Hallo mein Hase, ich rufe gleich zurück« , be-grüßte ich ihn.
»Okay, ich warte auf dich, hab‘ dich lieb.«
Damit war das Gespräch auch schon beendet.
Als ich wieder zurück ins Zimmer kam, war schon alles geklärt, ich hörte nur noch wie meine Mutter sagte: »dann werde ich mich jetzt mit dem ADAC in Verbindung setzen, damit sie den Transport meines Mannes in eine Mainzer Klinik organisieren.«
Wir verabschiedeten uns von den Ärzten und auf dem Flur meinte Mama, »ich brauch‘ jetzt einen Kaffee, einen gescheiten, keine Plörre. Wir werden jetzt zu deinem Vater gehen, ihm die guten Neuigkeiten erzählen und dann, mein Sohn, werden wir beide uns ein Mittagessen gönnen, und das nicht bei McDonalds!«
Josef
Als Markus keine 10 Minuten später zurückrief, erfuhr ich von ihm, dass sein Vater in eine Mainzer Klinik verlegt werden sollte. Irene wollte am Nachmittag vom Hotel aus mit dem ADAC den Rücktransport abklären, vorher wollten sie aber in der Stadt zum Essen gehen, sie war der Meinung, dass sei nach all der Aufregung mehr als nötig.
»Konntest du schon etwas in Erfahrung bringen, wie ich an die nötigen Papiere komme, damit ich den Kleinen aus der Klinik holen kann?«, Markus klang viel heiterer als in den letzten Tagen.
Leider konnte ich ihm nichts positives dazu sagen, die deutsche Botschaft hielt sich mehr als bedeckt.
»Nein, es hat sich noch keiner gemeldet aber ich verspreche dir, dass ich jetzt sofort selbst hin marschiere. Irgendwer wird schon da sein, einer muss sich kümmern. Vom Pförtner lasse ich mich dieses Mal nicht abwimmeln«.
»Lass mal, ich habe da eine andere Idee«, hörte ich Markus sagen »du hast doch eine beglaubigte Geburtsurkunde. Kannst du mir die bitte mal ins Palace Hotel faxen?«
Logisch, das war die Lösung. Markus würde die Reisedokumente für den Kleinen in der Botschaft in Sofia beantragen.
Markus
»Mama, wir müssen erst ins Hotel, Josef faxt mir die Geburtsurkunde des Kleinen«, drängte ich und wollte eine Taxe heranwinken.
Meine Mutter schüttelte nur mit dem Kopf und bekundete ihren Willen ein paar Schritte zu Fuß machen zu wollen.
So landeten wir schließlich im Niky, einem netten Restaurant in der Innenstadt. Ich wäre daran vorbeigelaufen, da es zu dem gleichnamigen Hotel gehört und ich erst gar nicht auf den Gedanken gekommen wäre, dass da jeder rein konnte, egal ob Hotelgast oder Passant.
Bei einem sehr leckeren Essen fanden wir endlich Zeit, uns darüber zu unterhalten, was in den letzten Tagen passiert war und wie es weitergehen sollte.
»Ich werde den Jungen erziehen…«, meine Mama strich mir zärtlich über die Hände, Tränen standen in ihren Augen, ein Kloß im Hals hinderte sie daran, mir zu antworten.
Der Ober erkundigte sich diskret, ob wir noch weitere Wünsche hätten. Ich orderte Kaffee und zwei Cognac, es war noch nicht alles besprochen, noch hatte ich nicht gebeichtet, dass ich es war, der die Apparaturen abgestellt hatte. Den Mord an Katharina musste ich noch gestehen.
Josef
Josh und Eli hatten kein Fax, aber sie wussten, dass ein kleiner Lebensmittelladen in der Nähe, in dem sie regelmäßig einkauften, ein Faxgerät hatte.
Jeder von ihnen bot an für mich dort hinzugehen und das Fax nach Sofia zu schicken. Schlussendlich gingen wir alle drei und es tat gut, mal vor die Tür zu treten und unter Menschen zu kommen. Unterwegs fiel mir ein, das Markus wohl auch eine beglaubigte Sterbeurkunde brauchen würde. Wie sollte er sonst die Vormundschaft beantragen.
Ich hatte meine Vermutung gerade den beiden geschildert, als Elis Handy läutete. Da er He-bräisch sprach konnte ich weder heraushören mit wem er telefonierte, noch um was es ging.
Das es wohl nichts Erfreuliches war, konnte man jedoch an seiner Mimik ablesen.
Auch Joshs Gesichtsausdruck hatte etwas Grimmiges.
»Verdammte Sippe «, zischte er.
»Was ist los, hat es etwas mit uns zu tun, geht es dem Kleinen nicht gut?« wollte ich von ihm wissen.
»Ich kann mir ja nur aufgrund von Elis Antworten einen Reim auf das Gespräch machen, aber so wie ich es verstanden habe, wollen sie den Kleinen holen.
»Das geht nicht, das dürfen sie nicht«, geriet ich in Panik.
»Ganz ruhig Josef, wir finden da schon eine Lösung. Ich habe mit der Sippe noch mehr wie eine Rechnung offen.«
Nachdem Eli sein Gespräch beendet hatte, be-stätigte er Joshs Vermutung.
Die beiden wechselten ins Hebräische, so dass ich nicht mehr verstehen konnte, um was es ging.
Dann verabschiedete sich Josh mit dem Hinweis noch etwas erledigen zu müssen, während Eli mit mir zu dem Gemüseladen lief.
Markus
Meine Mutter hielt mich in den Armen und ver-suchte mich zu trösten. Wir weinten beide.
Nachdem ich ihr erzählt hatte, dass ich Katharina das Leben genommen hatte, waren bei mir die Tränen gekullert.
»Markus beruhige dich, du hast Katharina nicht umgebracht, du hast lediglich diesen unwürdigen Zustand beendet«, redete Mama leise auf mich ein.
Den Ober, der sofort herbeigeeilt war, als er sah, dass es zu dramatischen Szenen kam, hatte sie mit der Order nach weiterem Cognac weggeschickt. Bis die zwei Gläser vor uns standen, hatte ich mich soweit beruhigt, dass wir unser Gespräch fortsetzen konnten.
Ob ich mir denn vorstellen könne, was es hieße ein Kind aufzuziehen, wollte sie wissen. Wie Josef dazu stünde und was aus meinem Job werden sollte?
»Mama, Josef steht hundertprozentig hinter mir, der ist mein Fels in der Brandung.«
»Aber was ist mit deinem Job, du bist gerade mit dem Studium fertig, du musst doch auch Geld verdienen?«, ihre klugen Augen forderten eine Antwort.
»Dann arbeite ich eben freiberuflich, es wird schon irgendwie klappen.«
»Mein Sohn, der ewig Zweifelnde, der sich immer wieder hinterfragt hat, bei allem, und jetzt diese Klarheit«, sie schüttelte den Kopf, »bist eben doch eine Kämpfernatur. Ich bin stolz auf dich.«
»Danke, Oma!«
Ich hatte sie zum ersten Mal Oma genannt. Das würde zukünftig wohl so bleiben. Wie sollte der Kleine sonst wissen, wer welche Rolle besetzte.
Josef
Am Abend schleppten die beiden mich ins Shpagat, einen schwulen Club, im Herzen der Stadt.
Dort trafen wir auf Amira und Esra. Amira wurde mir als gute Freundin und Kollegin Katharinas vorgestellt. Esra war wohl ihre Le-bensabschnittsgefährtin.
Amira war nicht sehr gesprächig, dafür war es Esra umso mehr und vor allem mit Josh im Gespräch. Allerdings auf Hebräisch, so dass ich wieder einmal dem Gespräch nicht folgen konnte.
Als die beiden sich dann auch noch nach draußen verzogen, schaute ich Eli und Amira fragend an.
»Esra und Josh kennen sich von der Arbeit«, klärte Eli mich auf, »die beiden haben schon einige Projekte zusammen durchgezogen. Glaube mir, du hättest auch nichts verstanden, wenn sie Englisch gesprochen hätten, sie haben ihren eigenen Kodex. Da bekommen Wörter eine eigene Bedeutung.«
Amira nickte und meinte »ja, das kenne ich auch, wenn die sich unterhalten meint man sie reden über einen Film oder ein Buch, dabei geht es aber immer um irgendetwas politisches. In diesem Land dreht sich alles um Politik und Religion!«
»Von letzterem merkt man hier aber reichlich wenig«, warf ich ein.
»Stimmt, deswegen sind wir ja hier«, Amira wurde nun lebhafter »zum Beten haben wir ja die Schäferlocken in Jerusalem. Wir haben unseren Beitrag geleistet, drei Jahre Militärdienst und manch einer von uns ist auch noch ehrenamtlich in sozialen Projekten tätig. Ein bisschen feiern muss uns doch wohl gegönnt sein, oder?«
Markus
Papas Rücktransport war geklärt. Er würde mit einem ADAC Jet von Sofia nach Frankfurt, und von dort aus mit einem Krankenwagen nach Mainz ins Elisabeth Krankenhaus gebracht werden.
Er wollte unbedingt ins Elisabeth, da er einige der dortigen Kollegen kannte. Für Mama war das gleich, ob sie nun nach Mainz, Wiesbaden oder Bad Kreuznach fahren musste, um ihn zu besuchen.
Einen Punkt auf der Agenda konnten wir ab-haken.
Auch Josef hatte endlich mal gute Nachrichten. Sie hatten einen Weg gefunden, wie sie den Jungen aus Israel rausschmuggeln konnten. Allerdings wollte er mir am Telefon keine Einzelheiten nennen.
Mir wurde nur gesagt, dass ich, sobald meine Eltern im Flugzeug saßen beziehungsweise lagen, einen Flug nach Larnaca buchen sollte. In der Lazuli Beach Front Anlage habe man bereits ein Appartement auf meinen Namen reservieren lassen.
Als ich an diesem Abend in meinem Bett lag, vermisste ich meinen Josef sehr. Wie gerne hätte ich jetzt mit ihm gekuschelt.
Josef
Markus würde spätestens an Silvester in Larnaca sein.
Der Abend im Shpagat war ein voller Erfolg gewesen. Joshs Kontakte waren sehr weitreichend aber am meisten erstaunt war ich über das Angebot von Elis kleinem Bruder gewesen.
Er war bereit, mit seiner Frau, die nur wenige Tage zuvor ebenfalls einen Jungen entbunden hatte, den Kleinen nach Larnaca zu bringen.
Ich würde einen Lufthansa Flug nach München buchen, am Flughafen aber die Maschine nicht betreten. Stattdessen mit Sun d’Or nach Larnaca fliegen.
Wir brauchten also nur noch die Papiere für den Kleinen, aber darum musste sich Markus in Sofia kümmern.
30.12.2000 – Markus
Meine Eltern waren weg, der Vormundschafts-antrag gestellt und ich hatte noch etwas Zeit, bis ich zum Flughafen musste. Ausgecheckt hatte ich schon und saß in einem Café am Fenster, von wo aus ich das rege Treiben beobachten konnte.
Leider hatte es keine Möglichkeit gegeben, von Sofia aus direkt nach Larnaca zu reisen. Ich musste einen Umweg über Athen nehmen, was die Reisezeit unnötig verlängerte.
Während ich dem Treiben zusah, begann ich mir Gedanken zu machen, wie es weitergehen würde.
Ich sah uns drei in verschiedenen Jahren. Den Kleinen, wie er in den Kindergarten kam, wie er eingeschult wurde…
Dabei merkte ich gar nicht, dass mir Glücksträ-nen über die Wangen liefen. Erst ein hübscher junger Mann vom Nachbartisch machte mich da-rauf aufmerksam, als er mir ein Taschentuch reichte. Er sprach mich auch an, auf Bulgarisch vermutlich, wechselte, als ich hilflos mit den Achseln zuckte, ins Englische und fragte: »Something wrong, can I help you?«
»No, no, thanks, I’m ok, I’m only happy«, bedankte ich mich.
Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass es Zeit war zum Flughafen aufzubrechen.
Ich winkte dem Ober, zahlte, schenkte dem freundlichen Bulgaren ein Lächeln und verließ das Café, nach einem Taxi Ausschau haltend.
Josef
Es hatte in der Klinik einen riesigen Aufstand gegeben, berichtete Daniel, als wir uns zu dritt in der Stadt trafen. In einem kleinen Café hatten wir den hintersten Tisch ergattert, von dem aus man das ganze Lokal gut im Blick hatte, super geeignet für unser konspiratives Treffen.
Aaron und Schmuel hatten den Kleinen abholen wollen, Amira dies aber verhindert, indem sie ihn als hochfiebernd unter Verschluss hielt. Die Schäferlocken wollten daraufhin den Chefarzt sprechen, der aber zu dem Zeitpunkt im OP stand und diesen in den nächsten Stunden wohl auch nicht verlassen würde. Mit dem Hinweis, dass sie wiederkämen, hatten sie den Rückzug angetreten.
»Boah, mir graut es davor, nach Zypern zu fliegen und den Kleinen hier allein zu lassen«.
»Keine Angst, wir bringen euch den Jungen, spätestens Anfang nächsten Jahres seid ihr eine Familie«, versuchte Eli mich zu beruhigen.
»Ihr kennt Markus nicht, der dreht am Rad vor Angst. Das wird ein lustiger Jahreswechsel werden«.
»Du fliegst nachher erst einmal nach Larnaca und machst dir mit Markus mal ein paar schöne Stunden«, Eli machte dazu eine eindeutige Handbewegung.
Nerven hatte der, wie sollten wir in ständiger Sorge um dem Kleinen, lustvoll poppen.
Markus
Die Maschine der Olympic Airlines setzte zur Landung an, die Crew hatte die Kabinenbeleuch-tung gedimmt und unter uns funkelten die Lich-ter in der Bucht. Nach einer großen Linkskurve sanken wir rasch tiefer und man konnte schon die Hotels erkennen, die sich wie Perlen an einer Schnur am Strand entlang aneinanderreihten.
Ein kurzes Rumpeln und wir hatten aufgesetzt. Ein Blick auf meine Uhr verriet mir, dass wir kurz vor Mitternacht hatten.
Bis wir dann endlich unser Gepäck erhielten, war es weit nach Mitternacht und als ich durch den Zoll war und in Richtung Mietwagenstände gehe wollte, stand er da und strahlte.
Josef
Die Abreise aus Tel-Aviv glich einer James Bond Story.
Die Schäferlocken hatten wohl Wind von meiner Abreise bekommen und wollte wohl sicher sein, dass ich auch tatsächlich an Bord ging. Einer der Gorillas aus der Klinik schenkte mir ein zynisches Lächeln bevor ich am Gate der Bodenstewardess meine Bordkarte zeigte und im Flugsteig verschwand.
Während die Mitreisenden ihre Plätze aufsuchten, hatte mich ein Steward diskret in die Galley geschleust und den Vorhang geschlossen.
Nachdem das Boarding beendet war, verließ ich die Bordküche durch die Außentür und den dahinter stehenden Servicewagen.
Im Versorgungszentrum wechselte ich erneut das Fahrzeug und wurde nun von einer offiziellen Limousine zur Parkposition der Sun d’Or Maschine gebracht, am Steuer saß Esra.
Umarmen konnten wir uns zum Abschied natür-lich nicht. Sie öffnete mir den Schlag, und kurz bevor sie den Kopf leicht nach vorn neigte, sah ich ein belustigtes Blitzen in ihren Augen.
Ich bedankte mich und sagte: »besser hätte ich es auch nicht organisieren können, Dank an die Organisation.«
Dann drehte ich mich um und stieg langsam die Stufen zum Flieger hinauf.
Und da kam nun mein Hase, abgekämpft und mit allem rechnend, nur nicht damit, dass ich ihn in Empfang nehmen würde.
Markus
Josef hatte sich schon um einen Mietwagen ge-kümmert und so schleppten wir unser Gepäck zur Abholstation.
Nun begann das Abenteuer, Linksverkehr und keine Ahnung wo das Hotel war. Immerhin hatten wir den Namen des Hotels und auf einer Karte, die er am Avis Schalter erstanden hatten, hatte ihm die Dame vom Check-in Service die Route markiert.
Wir sahen uns an. »Fährst du?«, fragte Josef. »Wenn du die Karte lesen willst und keine Angst vor meinen Fahrkünsten hast, gerne.«
»Ich weiß doch wie du fährst, warum sollte ich Angst haben?«
»Dann musst du aber auf die andere Seite«, sagte ich und begann um den Wagen herum zu gehen.
»Ach du Scheiße, daran habe ich überhaupt nicht gedacht, die fahren hier ja auf der falschen Seite. Ich könnte hier nicht fahren, bestenfalls mit Automatikgetriebe.«
Glücklicherweise war um diese Zeit wenig Verkehr und nach einem ersten Check, wie sich das mit dem seitenverkehrten Schalten anfühlte, hatte ich den Dreh mit dem Linksfahren recht schnell raus.
Die Appartementanlage gehörte zu einem der vielen Hotels, die ich beim Landeanflug gesehen hatte.
Josef
Wir waren positiv überrascht. Obwohl es mitten in der Nacht und außerhalb der Saison war, so dachten wir wenigstens, war in der Anlage noch recht viel los.
Die Hotelbar war gut besucht und unsere Bitte nach einer Flasche Wasser und einer Flasche Wein zur Mitnahme ins Appartement schien niemanden zu stören.
Ich unterzeichnete den Bon, in Erwartung, dass man mir das Gewünschte hinstellen würde, er-fuhr aber von der jungen Frau, dass man uns die Bestellung gleich ins Appartement bringen würde.
Um drei Uhr lagen wir in den Federn, müde von der langen Anreise und vom Wein aber trotzdem hungrig auf uns.
31.12.2000 – Markus
Wir hatten uns Lebensmittel und Getränke besorgt, wollten den Abend allein und im Ap-partement verbringen.
Josef hatte seinen Vater angerufen, der schon in Sorge war, da er von uns die letzten Tage nichts gehört hatte. Das Telefonat zog sich in die Länge, sein Vater schien viele Fragen zu haben.
Bis ich dann noch mit meiner Mama telefoniert hatte, neigte sich der Tag dem Ende entgegen, es dämmerte.
Immer noch schwebte ein Flugzeug nach dem anderen ein, der Lärm war, dank geschlossener Fenster erträglich.
Am Nachmittag waren wir ein Stück am Strand entlanggelaufen. Der Strand war schöne aber Ruhe konnte man hier nicht finden, in der Ein-flugschneise des Frankfurter Flughafens war es nicht wesentlich lauter, schätzte ich.
Ich wollte gerade etwas zu essen herrichten, als es an der Tür läutete.
Josef
Ich hatte nicht solange mit meinem Vater ge-sprochen, wie Markus meinte.
Zwischendrin hatte ich von Eli und Josh eine SMS bekommen, dass sie gelandet und nun gleich auf dem Weg zum Hotel seien.
Als Markus die Tür öffnete, hörte ich nur noch einen lauten Schrei »Josef, komm schnell!«
Ich wusste ja längst, was los war. Vor der Tür standen nicht nur Josh und Eli, nein auch Amira und Esra. Mit einer Kinderwippe in der Hand standen da auch Ilan und Judith.
»Möchtest du unsere Gäste nicht hereinbitten, mein Hase?«, ich trat hinter ihn und zog ihn ein Stück von der Tür weg.
Wir hatten natürlich viel zu wenig Platz für alle. In unserem Appartement konnten sich bestenfalls vier Personen aufhalten, ohne, dass man sich auf die Füße trat.
Nachdem wir den Kleinen gefüttert und die an-deren sich in ihren Appartements erfrischt hatten, saßen wir alle, stolz wie Bolle bei einem fantastischen Essen in einem nahegelegenem Restaurant, inklusive dem Jungen, der den Jahreswechsel friedlich in seiner Wippe verschlief.
Teil 2 – 2001
Kapitel 1 – Irene
Es war fast schon wieder Mitte Januar und in der Praxis entsprechend viel los. Die ganze Menschheit schien erkältet zu sein. Ich arbeitete von früh bis spät. Den freien Mittwochnachmittag hatte ich vorübergehend ausgesetzt, sonst hätte ich die ganze Arbeit nicht geschafft. Bernds Patienten musste ich, soweit mir das als Allgemeinmedizinerin möglich war, mitbetreuen, noch war kein Nachfolger für seine Praxis in Sicht.
Bernd würde nicht mehr praktizieren können, soviel stand fest. Der Schlaganfall hatte ihn mitten aus dem Arbeitsleben gerissen, und seine Genesung ging nur langsam voran. Die Ärzte und Pfleger in Mainz kümmerten sich zwar intensiv um ihn, aber im Gegensatz zu mir, hatte er viel Zeit zum Grübeln und ich hatte den Eindruck, dass er zunehmend in eine schwere Depression abglitt. Darüber hatte ich mit Joachim gesprochen, Bernds ehemaligen Studienkollegen, der als Oberarzt in der Neurologie am St. Elisabeth-Krankenhaus arbeitete.
„Er trauert um eure Tochter, du weißt ja selbst, wie sehr er an Katharina gehangen hat, und der Verlust seiner Arbeitsfähigkeit kommt noch dazu, Zum Glück habt ihr keine finanziellen Sorgen, sonst würden ihn diese noch zusätzlich auch noch belasten!“, hatte Joachim mir gestern Abend am Telefon erklärt.
Wieder einmal hatte ich es nicht geschafft, nach der Arbeit noch ins Krankenhaus zu fahren. Als der letzte Patient die Praxis verlassen hatte, war es bereits kurz vor Zwanzig Uhr. So rief ich wieder nur auf der Station an, um Monika, die Nachtschicht hatte, nach Bernds Zustand zu fragen. Da sie offiziell ja keine Auskunft geben durfte, verband sie mich kurzerhand mit Joachim.
»Ich trauere auch, oder meinst du, Katharinas Tod ist spurlos an mir vorüber gegangen“, sagte ich zum ihm, allerdings bin ich so eingespannt, dass ich abends nur noch todmüde ins Bett falle, und gar keine Zeit habe, mich der Trauer hinzugeben!“
„Warum sperrst du die Praxis nicht für einige Tage zu und kommst selbst mal zur Ruhe?“, Joachim klang mehr als ernst. Ich hörte den Vorwurf aus seiner Stimme, den Vorwurf mich selbst bis an den Rand der Erschöpfung zu treiben.
Ich wusste, dass ich die Praxis viel zu früh wieder geöffnet hatte, aber was hätte ich denn machen sollen. Bernd und ich teilten uns drei Arzthelferinnen. Ich konnte die Mädels doch nicht in Zwangsurlaub schicken. Und selbst wenn wir keine Miete zahlen mussten, nicht nur die Gehälter, auch die Kosten für die beiden Leasingfahrzeuge, verschlangen einen Batzen Geld, Geld, das erwirtschaftet werden musste.
„Joachim ich weiß, was du mir durch die Blume sagen willst“, wagte ich ihn zu unterbrechen, bevor er weitersprechen konnte. „So einfach wie du dir das vorstellst, ist es leider nicht. Die Kosten laufen weiter, ich muss sehen, dass Geld reinkommt. Außerdem weiß ich nicht, was uns Bernds Reha kosten wird.“
„Willst du auch einen Gehirnschlag riskieren, oder einen Herzinfarkt?“, brummelte Joachim.
„Keines von beiden. Ich passe schon auf mich auf, versprochen!«, antwortete ich. Im Hintergrund hörte ich den Alarm seines Piepsers, und wir mussten unser Gespräch abbrechen.
Zu den ganzen Sorgen, die ich mir um Bernd machte, kamen auch noch die Sorgen um Markus und Michael. Sie saßen immer noch auf Zypern fest und warteten auf die Dokumente wartend, die Markus Vormundschaft bestätigten. Josef war schon seit mehr als einer Woche wieder zurück in Oberhaching, er konnte sich den Betriebsausfall nicht länger leisten. Auch musste er sich um seinen Vater kümmern, der ja im Pflegeheim lebte. Markus schien mit der Säuglingspflege gut zurechtzukommen, was wohl auch daran lag, dass er häufig mit Judith telefonierte, und sie ihm auch in den drei Tagen, die sie über den Jahreswechsel zusammen verbracht hatten, die nötigen Handgriffe beigebracht hatte. Sobald er jedoch meinte, dass der Kleine krank sein könnte, rief er mich an. Dann hörte er sich angespannt an, selbst krank vor Sorge, etwas falsch zu machen. Aber ich konnte ihn jedes Mal beruhigen. Den Symptomen nach, die er mir nannte, hatte der Kleine nichts anderes als Blähungen, was bei Säuglingen ja nichts Ungewöhnliches ist.
Heute war Samstag und ich konnte wenigstens etwas länger schlafen als an den Wochentagen. Allerdings hatte ich einen merkwürdigen Traum, der mir immer noch nachhing, als ich mich kurz vor acht, mit der Tageszeitung an den Früh-stückstisch setzte, wo mir Bernds Abwesenheit schmerzlich bewusstwurde.
Das Frühstück war immer das Einstiegsritual ins Wochenende gewesen, selbst in der Zeit, als Bernd eine Affäre hatte und unsere Ehe auf der Kippe stand. Ich hatte lange erwogen, mich von ihm zu trennen und mit den Kindern auszuziehen, mich aber letztendlich dazu aufgerafft, diese Krise als das zu sehen, was sie war, etwas, was fast jedem Paar einmal passierte.
Ich las in der Zeitung gerade einen Artikel über Ariel Scharon, der am sechsten zum Ministerpräsident Israels gewählt worden war, als das Telefon läutete.
Josef war zu dieser frühen Zeit an der Strippe, wollte wissen, wie es Bernd gehe und ob er irgendetwas tun könne.
„Das ist lieb von dir, dass du anrufst und uns deine Hilfe anbietest“, gab ich zur Antwort, „dabei hast du doch selbst genug um die Ohren. Wie geht es dir denn und was macht dein Vater“, wollte ich wissen.
„Mir fehlen Markus und der Kleine, meinem Vater geht es den Umständen entsprechend gut“, drang seine Stimme an mein Ohr. Wir telefonierten nahezu eine halbe Stunde, in der er mir von der tatkräftigen Unterstützung, die sie von Mosches Brüdern erhalten hatten, erzählte. Nachdem ich aufgelegt hatte, fiel mir der Traum wieder ein. > Der alte Weizmann hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Michael in seine Gewalt zu bekommen. Markus und Josef waren daraufhin mit dem Kleinen auf Flucht, entkamen immer nur knapp ihren Häschern. Irgendwie war auch der Mossad an dem Ganzen beteiligt. Am Schluss hatte mir Mosches Mutter erklärt, alles werde gut, ich solle mir keine Sorgen machen, ihr Mann wolle doch nur das Beste für seinen Enkel. <
Einige Stunden später erzählte ich Bernd von meinem Traum, der nichts dazu sagte, mir nur liebevoll die Hand streichelte. Bernd sprach immer noch wenig, wobei die Logopädin ihn dazu gedrängt hatte, mehr zu üben. Wahrscheinlich wollte er nicht, dass man hörte, wie er kämpfen musste, um einzelne Worte zu formulieren, wobei es natürlich auch sein konnte, dass Teile seines Sprachschatzes für immer verloren waren, und er sich Worte und deren Bedeutung erst mühsam wieder würde erarbeiten müssen. Aber wir mussten einiges besprechen, eine Lösung für die Praxis finden. Bislang hatte ich das Thema nicht angesprochen, nun musste es sein. Vorsichtig begann ich ihm klarzumachen, dass er wohl nie wieder würde praktizieren können, etwas, worüber er sich in seinen einsamen Stunden doch bestimmt auch schon Gedanken gemacht haben musste.
„Bernd, Liebling, ich weiß, dass dir das Sprechen schwerfällt, aber es gibt da eine Sache, über die wir reden müssen, die Praxis.“ Sofort traten ihm Tränen in die Augen. Es half nichts, ich durfte jetzt nicht nachgeben, auch wenn es mir das Herz zerreißen wollte.
„Ich möchte einen Nachfolger für dich suchen, allein schaffe ich das nicht, schon wegen der unterschiedlichen Ausrichtung. Ich brauche wieder einen Internisten.“ Er drehte sich weg, was mich wütend machte. Er als Mediziner wusste doch nur zu gut, dass er nicht mehr würde praktizieren können. Warum also diese Sturheit, der Tatsache nicht ins Auge sehen zu wollen. Wir hatten schon seit Jahren Verfügungsvollmachten für den Fall der Fälle., aber mir wäre es lieber, wenn ich seine Zustimmung bekommen würde, als von der Vollmacht Gebrauch machen zu müssen.
Bernd, schau mich bitte an. Du weißt, dass es mir nicht leichtfällt, aber es hilft doch nichts, wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen.“ Er drehte mir weiterhin den Rücken zu.
„Ich werde eine Annonce in der Ärztezeitung schalten.“ Ich wollte mich gerade verabschieden, als Joachim das Zimmer betrat.
„Dicke Luft?“, fragte er, noch bevor er mich in die Arme nahm, um mich zu begrüßen, mit Küsschen auf beide Wangen, so wie wir uns schon seit Ewigkeiten begrüßten. Immerhin drehte sich Bernd jetzt wieder um und artikulierte schwer-fällig, „Sie will einen Nachfolger für mich suchen, mich aus meiner eigenen Praxis werfen!“
„Davon kann wohl keine Rede sein“, sagte Joachim in einem Ton, der keine Widerrede zuließ, „Irene rackert sich von morgens bis abends ab. Niemand will dich aus deiner Praxis werfen, aber du wirst dich damit auseinandersetzen müssen, dass du nicht mehr arbeiten kannst. Du kannst von Glück sagen, dass du noch am Leben bist, es hätte auch anders ausgehen können!“ Endlich hatte er Tacheles gesprochen, jetzt lagen die Fakten auf dem Tisch.
„Ich will in der Ärztezeitung eine Anzeige schalten und hoffe schnellstens jemanden zu finden der die Praxis übernehmen will und die Ablöse zahlen kann«, sagte ich.
„Das ist eine hervorragende Idee. Vielleicht solltest du aber auch noch in einigen anderen Zeitungen inserieren, du weißt ja selbst, wie das mit der Ärztezeitung ist, wir haben sie alle im Abo, aber die meisten schauen nur dann rein, wenn auf dem Titelblatt auf einen Artikel hingewiesen wird, der einen interessiert. Und du“, wandte er sich an Bernd, „hörst auf mit deinem Schicksal zu hadern und unterstützt Irene! Das erwarte ich von dir, hast du mich verstanden?“, dabei blickte er Bernd mit funkelnden Augen an. Bernd sagte nichts, nickte aber leicht mit dem Kopf.
Bernd und Joachim waren schon seit ihrer Studienzeit die dicksten Freunde und hatten gemeinsam wohl auch den einen oder anderen Unfug angestellt, den sie bei Partys immer wieder zum Besten gaben. Und gerade wegen Joachim und noch weiteren Kollegen, die alle im Elisabeth-Krankenhaus arbeiteten, hatte sich Bernd dieses Krankenhaus ausgesucht. Wenn Joachim ihm die Leviten ließ, hatte das einen ganz anderen Stellenwert, als wenn ich, als seine Frau das machte. Ihm konnte er nicht zum Vorwurf machen, ihn aus seiner Praxis drängen zu wollen.
Als ich abends wieder zuhause war, begann ich direkt die Anzeige zu formulieren, kam jedoch nicht ganz klar damit. Was sollte ich schreiben: Aus persönlichen Gründen oder krankheits-bedingt? Ich wollte die Anzeigen in der Mainzer Allgemeinen Zeitung, der Ingelheimer-, sowie auch der Binger- und vielleicht auch der Kreuznacher-Ausgabe schalten. Ich beschloss, erst einmal darüber zu schlafen, morgen war auch noch ein Tag.
Kapitel 2 – Bernd
Von meinem Fenster aus konnte ich in den Park sehen, der jetzt, Mitte Februar einen trostlosen Eindruck machte, aber im Sommer, wenn alles grün war und die Pflanzen in voller Blüte standen, bestimmt zum Verweilen einlud.
Ich war nun bereits die zweite Woche hier in der Rehaklinik in Bad Camberg, zu der mir Joachim geraten hatte, da man in Mainz nichts mehr für mich tun konnte. Die Klinik war nur für Akutfälle ausgelegt. Ich war ja überm Berg und brauchte jetzt Physio- und Logotherapie, außerdem psycho-therapeutische Unterstützung.
Es war nicht nur der Tod Katharinas, auch der Verlust meiner Arbeitsfähigkeit hatte mich in eine tiefe Depression fallen lassen. Nicht einmal der Gedanke daran, nun Opa zu sein, konnte meine Stimmung aufhellen. Die Umstände, die dazu geführt hatten, dass mein Enkel nun in Deutschland aufwachsen würde, waren alles andere als erfreulich. Beide Elternteile tot, in Bälde vom schwulen Onkel adoptiert, was würde den kleinen Michael in seinem Leben erwarten?
Zugegebenermaßen hatte Josef einen guten Eindruck bei mir hinterlassen, als er bei seinem ersten und bis dato einzigen Besuch, davon erzählt hatte, wie sein Vater ebenfalls durch einen Schlaganfall von jetzt auf gleich nicht mehr in der Lage war, die Schreinerei weiterzuführen, wie er sich um den Vater gekümmert und parallel dazu den Laden übernommen hatte, und dass ihm dabei die Frau weggelaufen war. Ich wusste nur immer noch nicht, wieso Markus und er ein Paar geworden waren, Josef wirkte alles andere als schwul, was man von meinem Sohn nicht unbedingt behaupten konnte.
Morgen sollte ich meinen Enkel kennenlernen, Markus war mit dem Kleinen Anfang des Monats endlich in Oberhaching angekommen, nachdem er wochenlang auf Zypern festgesessen hatte. Seit seinem Besuch in der Klinik in Sofia hatte ich ihn ja nicht mehr gesehen aber auch nicht mit ihm gesprochen, da es mir immer noch schwerfiel, mich auszudrücken und daher an Telefonieren kaum zu denken war.
Einzig mit Irene telefonierte ich, sie hatte gelernt, aus meinem Gebrabbel herauszuhören, was ich krampfhaft zu artikulieren versuchte.
Irene managte alles. Zunächst war ich auch froh darüber, dann aber auch wieder verärgert, weil es ihr nicht schnell genug ging, einen Nachfolger für meine Praxis zu finden. Joachim hatte mir gehörig den Kopf gewaschen, mich daran erinnert, dass ich mich glücklich schätzen konnte, sie als Frau zu haben. Nicht jede Frau hätte es sich gefallen lassen, dass der Gatte über mehrere Monate ein Verhältnis mit der Nachbarin pflegte. Jede andere, so hatte er gesagt, hätte sofort die Koffer gepackt, eure Kinder ins Auto gesetzt, bei Freunden oder Verwandten Unterschlupf gesucht und die Scheidung eingereicht.
Stattdessen war sie geblieben, hatte ihr Studium erfolgreich zu Ende gebracht und ihre eigene Praxis eröffnet. Sie hatte dabei den schlechteren Part erwischt, denn ihre Patienten, die meistens auch meine waren, erwarteten, wenn sie krank waren, dass Irene sie zuhause besuchte.
Ich als Internist beschränkte mich von jeher darauf, die Patienten in meiner Ordination zu empfangen. Außerdem verdiente ich mit den zahlreichen Magen- und Darmspiegelungen gutes Geld, während Irenes Einsatz meistens mit den schlechten Pauschalen vergütet wurde.
Es war ein ständiges Auf und Ab mit meinen Gefühlsschwankungen, was unter anderem auch daran lag, dass ich mich beharrlich weigerte, die Psychopharmaka, die man mir medikamentieren wollte, zu schlucken. Dass sie nicht abhängig machen würden, brauchte mir keiner zu erzählen. Ich hatte in meiner Praxis zu viele Patienten, die süchtig nach diesen Pillen waren, egal ob sie sedierend oder aufhellend wirkten. Die dunklen Gedanken hatte ich eh meist nur in den frühen Morgenstunden, wenn ich gegen vier Uhr aufwachte und dann bis sechs Uhr grübelnd im Bett lag. Spätestens um kurz nach Sieben ging es mir schon etwas besser, wenn ich im Speisesaal meine Tischnachbarn traf, Sigrid, eine von den dreien war trotz ihrer Parkinson Erkrankung im-mer guter Laune, während Silvia, die an Multiple Sklerose litt, noch trübsinniger war als ich. Auch Peter, der gestern erst neu zu uns gestoßen war, hatte beim Abendessen einen ausgeglichenen Eindruck auf mich gemacht.
Um halb Neun hatten wir Stationsrunde, wo wir uns alle in einem der Gruppenräume zusammen mit einem der Therapeuten sowie jemanden von der Stationsleitung versammelten und jeder in einem kurzen Statement darüber berichtete, wie er die Nacht verbracht hatte und was ihn gerade be-schäftigte. Den Rest des Tages verbrachte jeder von uns entweder in Einzeltherapie oder in Gruppen-sitzungen, je nachdem welche Vorerkrankung vorlag und wozu der Einzelne körperlich fähig war. Ich war in der Gestaltungsgruppe gelandet, wo wir nach Vorgabe eines Themas Bilder malten, und diese anschließend zusammen mit dem The-rapeuten und der Gruppe gedeutet wurden. Da ich nie zuvor so etwas gemacht hatte, war es für mich schon sehr erstaunlich, was man da so alles herauslesen konnte. Am meisten halfen mir die Gruppensitzungen, denn dort relativierten sich meine Probleme ganz schnell, wenn ich hörte, was die anderen so alles mitgemacht und woran sie zu knabbern hatten.
Was mich natürlich auch beschäftigte, war Katharinas Verhalten hinsichtlich des Übertritts zum Judentum. Warum hatte sie uns das verschwiegen, genauso wie ihre Absicht diesen Mosche zu heiraten. Mosche war Journalist gewesen, hatte wohl für die Jerusalem Post, eine der großen israelischen Tageszeitungen geschrieben. Wir kannten weder ihn noch seine Familie, die wohl sehr einflussreich war, wie Irene mir erklärt hatte. Vor allem aber war ich darüber mehr als enttäuscht, dass sie offenbar kein Interesse mehr daran hatte, in meine Praxis einzutreten. Als sie ihr Grundstudium beendet hatte, und bevor sie nach Israel gegangen war, um dort ihren ABK zu absolvieren, war dies der Plan gewesen. Was ich auch nicht nachvollziehen konnte, war wieso sie anstelle im westlich Jerusalems gelegenen Misgav Ladach Krankenhaus, wo ihr eine Stelle angeboten worden war, in Bethlehem im Heilige Familie gearbeitet hatte. Irgendwie passte das alles nicht so recht zusammen.
Irene erzählte mir gestern am Telefon, dass sie einen Interessenten für die Praxis gefunden hatte, einen indischstämmigen Mediziner, der außer seinem Facharzt als Internist, auch ayurvedische Heilkunde praktizierte. Aus ihrer Sicht eine gute Ergänzung zu ihrer Hausarztpraxis. Er war wohl in der Lage die Ablösesumme zu zahlen, die wir uns vorstellten.
Um den Mietvertrag musste sich unser Anwalt kümmern und auch unser Steuerberater musste in das Geschehen involviert werden, damit es bei der nächsten Steuererklärung keine böse Überraschung geben würde. Auch das hatte Irene schon alles in die Wege geleitet und morgen würde sie mir bestimmt mehr sagen können, sofern sie dazu Gelegenheit haben würde.
Kapitel 3 – Irene
So ein süßer Bengel, der zarte schwarze Haarflaum, dazu diese bernsteingesprenkelten braunen Augen, diesen Buben musste man einfach auf den ersten Blick liebhaben. Er wusste noch nichts, von alledem, was er in seinen wenigen Monaten schon alles erlebt hatte, dass seine Eltern tot waren und seine israelischen Onkel seinem Adoptivvater geholfen hatten, ihn den Säugling aus dem Land herauszuschmuggeln und nach Zypern zu bringen, wo er sehnsüchtig erwartet wurde. Ich hielt zum ersten Mal meinen Enkel im Arm und wollte ihn am liebsten nicht mehr hergeben.
Markus sah blass und abgemagert aus, „Er bekäme vielleicht zu wenig Schlaf“, hatte er mir auf meine, mit einem kritischen Blick untermauerten Frage nach seiner Gesundheit, geantwortet. Als er aber kurz im Bad verschwunden war, hatte mir Josef anvertraut, dass Markus offenbar von Alpträumen geplagt wurde, aus denen er schweiß-gebadet aufwachte. Die Frage, ob er denn in ärztlicher Obhut sei, verneinte Josef.
„Irene, du darfst mir glauben, ich rede mir den Mund fusselig, aber sobald ich das Thema auch nur anschneide schaltet Markus auf stur. Dann hat er tausend Argumente warum er gerade jetzt keine Zeit hat zum Arzt zu gehen“, resignierend zog er die Schultern hoch.
„Oh ja, ich kenne meinen Sohn, stur wie ein Esel kann er sein“, ich strich dabei meinem Enkel liebevoll über den Kopf, „Katharina war genauso, Zwillinge eben. Bleibt zu hoffen, dass der Kleine hier nicht auch so veranlagt ist und mehr von Mosches Genen mitbekommen hat.“
„Warum mehr von Mosches Genen?“, begehrte Markus zu wissen, der, ohne dass wir es bemerkt hatten, längst wieder zu uns gestoßen war.
„Damit er nicht ganz so stur ist wie du, und wie es deine Schwester auch sein konnte!“, sagte ich.
„Ich bin doch nicht stur“, brauste Markus auf und sah dabei um Hilfe heischend zu Josef, der nur spöttisch lächelte, sich aber eines Kommentars enthielt.
Der Kleine fing an zu greinen, und mir stieg ein unangenehmer Geruch in die Nase.
„Da braucht jemand eine frische Windel und Zeit fürs Fläschchen dürfte es wohl auch sein“, sagte ich zu Markus und wollte zur Treppe, um Michael im Obergeschoss, in Katharinas ehemaligen Zimmer, welches ich wieder in ein Kinderzimmer umgestaltet hatte, frisch zu machen.
„Mama, wo willst du hin?“, hörte ich Markus rufen.
„Nach oben, um meinen Enkel frisch zu machen“, beantwortete ich seine Frage.
„Aber das ist doch meine Aufgabe…“, mehr konnte er nicht mehr sagen, denn da hatte sich Josef schon in das Gespräch eingemischt und meinte zu ihm:
„Lass’ das mal die Oma machen. Du setzt dich jetzt mal auf deinen Hintern und hältst die Füße still. Das Fläschchen mache ich derweil fertig“, dabei sah er zunächst Markus streng und danach mich fragend an.
„Steht alles in der Küche bereit!“, damit ließ ich die beiden allein und stieg mit meinem Enkel im Arm die Treppe zum Dachgeschoss hoch.
Als ich mit einem frisch gewickelten Michael wieder herunterkam und einen Blick ins Wohnzimmer warf, sah ich Markus, der schlafend, in schlechter Haltung im Sessel hing. Morgen würden ihm sicher sämtliche Knochen weh tun.
„Du hast ja wirklich an alles gedacht“, sagte Josef zu mir keine zwei Minuten später, dabei auf das Babyphone deutend, welches eingeschaltet, auf dem Bord zwischen Gewürzdosen, Pfeffer- und Salzmühlen, Ölen und Essigflaschen seinen Platz erhalten hatte.
„Hast du etwa die vertraulichen Gespräche zwischen meinem Enkel und mir belauscht?“
„Von einem Gespräch habe ich nichts mitbe-kommen, das klang eher wie ein Monolog“, dabei prüfte er die Temperatur des Fläschchens, indem er es sich an die Wange drückte.
„Passt, genau richtig, willst du ihn füttern?“
„Was für eine Frage, klar will ich das“, gab ich zur Antwort und setzte mich mit dem Kleinen im Arm auf einen der alten Küchenstühle, die so manches zu erzählen hätten, wenn sie reden könnten. Josef reichte mir das Fläschchen, strich dem Knaben zärtlich über den Kopf und setzte sich mir gegenüber.
„Wie geht es Bernd, macht er Fortschritte?“, wollte er wissen.
„Peu á peu geht es voran, er ist genauso un-geduldig, wie du es von Markus kennst, der Apfel…“.
„… fällt nicht weit vom Birnbaum“, ergänzte Josef den Satz. Dann wollte er wissen, wieweit ich denn mit meinen Annoncen gekommen sei und so berichtete ich ihm von Dr. Sahdi, der sich unter vielen anderen, auf die Anzeigen hin gemeldet hatte, mir aber am besten gefiel, vor allem, weil er mit der indischen Heilkunst eine wirkliche Bereicherung für unsere Gemeinschaftspraxis sein würde.
„In der Stadt kann ich mir so etwas ja durchaus vorstellen, aber hier auf dem Land? Ist das nicht etwas gewagt?“, Josef warf mir einen fragenden Blick zu.
„Hältst du uns für Hinterwäldler?“, spöttisch grinsend zog ich dabei meine Augenbrauen hoch. Michael hatte seine Flasche inzwischen ausgetrunken.
„Um Himmels willen, nein, so habe ich das doch nicht gemeint“, beeilte sich Josef meine Frage zu beantworten. Ich erzählte ihm dann in Kurzform, wie es derzeit um die Ärzteschaft im Landkreis Mainz-Bingen bestellt ist, und dass ich mir schon sehr gut vorstellen könnte, dass sich viele Patienten, vor allem die jüngeren und auch die der Esoterik-Fraktion, einer alternativen Heilmethode gegenüber offen zeigen würden. Michael, der über Josefs Schulter lag, war, nach seinem Bäuerchen eingeschlafen.
„Magst du euren Sohn nicht nach oben bringen und in sein Bettchen legen, da schläft er bestimmt besser“, ich sah Josef fragend an.
„Ja, klar, gute Idee“, antwortete er und ließ mich allein in der Küche zurück.
„Unser Sohn hat sie gesagt…,“, klang kurze Zeit später Josefs verzerrte Stimme aus dem Babyphone. Und kurz danach hörte ich, wie die Tür leise geschlossen wurde. Das erinnerte mich an die Zeit, als Markus und Katharina noch Säuglinge waren, und Bernd und ich ihren Geräuschen gelauscht hatten. Stets war es Katharina gewesen, die als erste erwacht und laut brüllend nach Futter und einer frischen Windel verlangt hatte. Katharina, nur acht Minuten älter als Markus, war stets diejenige von beiden gewesen, die als erste Ansprüche nach Auf-merksamkeit geltend machte, als erste krabbelte und als erste mit dem Sprechen begann. Auch später in der Schule lernte sie schneller un begriff viel eher Zusammenhänge. Markus war in allem eine Spur langsamer, ohne dass er dabei weniger intelligent gewesen wäre. Die beiden standen sich unglaublich nahe, was mir begründeten Anlass gab, dass Markus‘ Alpträume mit dem Abschalten der Apparaturen zusammenhing. Der Junge brauchte einen Psychotherapeuten, eine weitere Baustelle, um die ich mich kümmern müsste. Das würde ihm zwar nicht passen, aber da durfte ich nicht lockerlassen. Michael hatte Anspruch da-rauf, einen gesunden Papa zu haben, auch wenn er nicht sein leiblicher war.
Ein Blick zur Uhr genügte, um mich daran zu erinnern, dass es höchste Zeit wurde, sich um das Abendessen zu kümmern, wobei ich heute keine Lust zum Kochen hatte. Im Winzereck konnte man passabel essen, allerdings schlief der Kleine jetzt, und ihn dorthin mitzunehmen wäre wahrscheinlich keine so gute Idee. Da war es besser, die Jungs dorthin zu schicken, um uns das Essen nach Hause zu holen. Ich entschied mich dann doch, selbst zu fahren, da Josef ebenfalls einen müden Eindruck machte, als er wieder zu mir in die Küche trat.
Als ich mit dem Essen zurückkam, war Markus schon wieder wach. Josef hatte den Tisch in der Essecke im Wohnzimmer gedeckt.
„Das riecht aber sehr verlockend“, hörte ich von meinem Sohn, „was gibt’s denn Leckeres?“
„Etwas von dem ich weiß, dass du es schon seit deiner Kindheit magst, Schnitzel.“
„Die mag ich auch gerne“, schaltete sich Josef in unser Gespräch ein.
„Und ich dachte immer, ihr Bayern steht mehr auf Haxen mit Knödel und Kraut“, neckte ich ihn.
„Eher Schweinsbraten, Haxen sind zu fett“, bekam ich zur Antwort. Aha, mein ‘Schwiegersohn’ achtete also auf seine Linie, dabei hatte er das doch gar nicht nötig.
„Mama, Josef hat mir vorhin erzählt, dass du einen Inder in die Praxis aufnimmst, wie kommt’s?“, Markus schaute mich fragend an.
„Erzähl’ ich dir gleich, nehmt euch was zu trinken und setzt euch“, dabei verteilte ich das Fleisch und die Beilagen auf den Tellern, die mir Josef wieder zurück in die Küche gebracht hatte.
„Was trinkst du?“, wollte Markus wissen.
„Das Gleiche wie ihr“, antwortete ich, wobei ich Josef zwei Teller in die Hände drückte und mit dem Dritten die Essecke im Wohnzimmer ansteuerte. Während wir aßen, klärte ich meinen Sohn über den Stand der Dinge auf.
„Josef hatte schon seine Bedenken wegen Provinz und so geäußert…“, da wurde ich aber auch schon von Markus unterbrochen.
„Provinz“, wandte er sich an Josef, „willst du damit etwa sagen, dass du mit einem Hinterwäldler zusammenlebst?“, dieses Funkeln in seinen Augen kannte ich nur zu gut. Wie oft hatte er damit schon zum Ausdruck gebracht, dass das Gesagte nicht so zu verstehen war. Josef, der sich gerade eine weitere Gabel in den Mund schob, konnte deshalb nicht antworten., Daraufhin erklärte ich Markus, dass ich genauso reagiert hätte.
„Der Apfel fällt nicht weit…“, neckte Markus mich. Wobei er natürlich nicht Unrecht hatte, Teile seines schnell aufbrausenden Temperamentes hatte er sicherlich auch von mütterlicher Seite mitbekommen.
Bernd war von jeher der Besonnenere, nicht nur im Umgang mit den Kindern und Freunden, auch was unsere Patienten anbelangte. Da konnte ich auch schon mal aus der Haut fahren, wenn der eine oder andere partout den Sinn einer vorgeschlagenen Behandlung nicht begreifen wollte. Vor allem bei unseren Patienten, die mit Suchterkrankungen zu kämpfen hatten, war eine klare Sprache angebracht und wenn ich da auf taube Ohren stieß, konnte ich buchstäblich durch die Decke gehen. So manche Ehefrau, deren Mann zu viel trank, kämpfte selbst mit ihrer Sucht nach Essbarem, was sich schon im Umfang bemerkbar machte und nicht erst auf der Waage zeigte.
Oder diese Nerds, die man nicht mehr vom Bildschirm loseisen konnte, ganz zu schweigen von den Teenagern, die sich nur noch mit ihren Smartphones beschäftigten.
„So war das doch gar nicht gemeint“, sagte Josef, sobald er den Mund leer hatte. „Weiß ich doch“, gab Markus grinsend zurück. „Mittlerweile solltest du mich doch gut genug kennen, um an meinem Gesicht ablesen zu können, wann etwas ernst ge-meint ist oder nur im Scherz gesagt wurde.“
Obwohl Markus und Josef müde waren, wurde es doch noch ein langer Abend, bis wir kurz vor Mitternacht endlich alle in unseren Betten lagen.
Kapitel 4 – Josef
Markus und Michael waren erst am zwanzigsten Januar aus Zypern gekommen. So lange hatte es gedauert, bis die Vormundschaftspapiere endlich angefertigt waren und von Markus im Konsulat in Nikosia abgeholt werden konnten.
Es war für uns alle eine Zitterpartie, allein schon deshalb, weil es von Israel aus ja nur ein Katzensprung bis Zypern war und wir nicht wussten, welche Anstrengungen Michaels israelischer Großvater unternehmen würde, um seinen Enkel unter seine Obhut zu bringen.
Ich selbst war, wie es der ursprüngliche Plan auch vorgesehen hatte, am sechsten zurück gekommen und hatte als erstes meinen Vater im Heim besucht, den ich in der Woche vor unserer Abreise zuletzt gesehen hatte. Ihm ging es den Umständen entsprechend gut, wobei sich allerdings erste An-zeichen einer beginnenden Demenz bemerkbar machten.
Dies merkte ich daran, dass er mit dem Namen Markus überhaupt nichts anfangen konnte. Als ich ihm erzählte, dass Markus nun ein Baby zu versorgen hatte, sah er mich nur verständnislos an.
Bei einem Gespräch mit der Heimleitung wurde aus meiner Vermutung Gewissheit. Die Leiterin wollte dem Arzt nicht vorgreifen, denn er könne mir sicherlich mehr über den Gesundheitszustand meines Vaters sagen, erklärte sie mir, aber so viel sei sicher, der Prozess schreite mit großen Schritten voran. Mit dem behandelten Arzt hatte ich am nächsten Tag ein längeres Telefonat, in dem er mir die Aussage der Heimleiterin bestätigte.
Es war schwer für mich, den Tatsachen ins Auge zu sehen und mich mit dem Unvermeidbaren auseinander zu setzen, über kurz oder lang würde Papa mich nicht mehr erkennen. Schlimm war vor allem, dass Markus nicht da war, der mich sicher tröstend in den Arm genommen hätte.
Mit ihm telefonierte ich natürlich jeden Tag. Seine Situation war noch bescheidener als meine, keiner wusste, wie lange es mit den Papieren noch dauern würde. Hinzu kam, dass er sich ganz ohne jegliche Hilfe, rund um die Uhr, um den Kleinen kümmern musste.
Nachdem er mich am sechsten zum Flughafen gebracht hatte, war er mit Michael nach Nikosia gefahren, um sich dort, in der Nähe der Deutschen Botschaft, ein preiswertes Hotel zu suchen. Als er mich abends anrief, berichtete er mir, dass es in unmittelbarer Nähe gar keine Hotels gäbe und er im Castelli abgestiegen wäre.
Markus hatte sich eine Zermürbungsstrategie zurechtgelegt, indem er jeden Morgen mit Michael die Botschaft aufsuchen wollte, um den Mitarbeitern dort vor Augen zu führen, in welcher Lage sich die beiden befanden. Ich hatte mein Zweifel, dass sich deutsche Beamte durch eine sanfte Belagerung – anders konnte man Markus‘ Vorhaben nicht bezeichnen – aus der Ruhe bringen lassen würden. Ich sollte Recht behalten. Schon am dritten Tag bat man Markus die Botschaft solange nicht mehr aufzusuchen, bis man sich telefonisch bei ihm gemeldet hätte.
Von dem Tag an war es für ihn noch frus-trierender. Zur Botschaft hatte er Michael in einem Baby-Korb mitgeschleppt, Spaziergänge konnte er damit aber nicht unternehmen. Nun wäre Markus nicht Markus, wenn er dieses Problemchen nicht hätte lösen können. Eins der Zimmermädchen lieh ihm ihren Kinderwagen, den sie momentan nicht brauchte. Von ihr hatte er auch Kinderkleidung bekommen, aus der ihr Jüngster herausge-wachsen war.
Nachdem auch dies geklärt war, konnte ich mich endlich wieder meiner Firma widmen. Es musste sowohl der Jahresabschluss gemacht und zufriedengestellt werden die auf die Fertigstellung ihrer Aufträge warteten.
Zudem musste das Kinderzimmer eingerichtet werden. Eigentlich wollte ich die Wiege für unsere Kinder selbst bauen, das hatte ich mir fest vorgenommen, als ich meine Frau geheiratet hatte. Nur war es nie dazu gekommen, Unser kurzes Zusammenleben hatte nicht dazu gereicht, ein Kind zu zeugen. Mit der Familiengründung wollten wir warten, bis ich meinen Meister in der Tasche hatte. Aber die Dinge hatten sich ja verselbständigt, Martina war weg und ich jetzt mit Markus zusammen. Und seit Heiligabend waren wir nun Eltern.
Eine Baustelle musste auch noch in Angriff genommen werden, Martina und ich waren immer noch miteinander verheiratet. Ich würde sie anrufen müssen, vielleicht würden wir die Scheidung mit einem gemeinsamen Anwalt schneller hinter uns bringen können. Markus sah müde aus, als er mit dem Kleinen die Wartehalle betrat, wo ich seit über zwei Stunden auf und ab tigerte, immer wieder auf die Anzeigetafel blickend, in der Hoffnung, dass der Flieger doch früher an-käme, als dort angezeigt wurde.
Die Maschine war mit mehr als einer Stunde Verspätung in Larnaca gestartet, verursacht durch ein kleines technisches Problem, das kurzfristig behoben werden konnte.
„Willkommen zuhause“, begrüßte ich meine kleine Familie, umarmte und küsste erst Markus, der die Trage mit dem Kleinen, dafür kurz abgestellt hatte, und bückte mich dann zu unserem Sohn, um diesen ebenfalls mit einem Küsschen in seiner neuen Heimat willkommen zu heißen.
Auch die Fahrt vom Flughafen nach Oberhaching zog sich in die Länge, zahlreiche Wintersportler hatten auf dem Weg in die Alpen schon den ganzen Tag über für stockenden Verkehr gesorgt, und selbst am Abend schien der Verkehr nicht weniger geworden zu sein. Bis wir endlich zuhause waren, ging es schon auf einundzwanzig Uhr zu, Zeit, den Kleinen zu baden, ihm die Flasche zu geben und ihn dann in seiner Wiege aus dem Möbelhaus, schlafen zu legen.
Die Versorgung des Kleinen hatte ich über-nommen, damit Markus sich in der Zwischenzeit duschen und umziehen konnte. Um unser Abendessen hatte ich mich schon am Vormittag gekümmert, der Gemüseauflauf brodelte derweil im Ofen.
Als ich Markus Wein nachschenken wollte, schüt-telte er den Kopf und sagte,
„Denk’ dran, Michael meldet sich spätestens in drei Stunden, das ist sein Rhythmus, dann kräht er nach Futter und einer frischen Windel.
„Au backe, daran hab’ ich überhaupt nicht mehr gedacht“, antwortete ich, „das übernehme ich heute Nacht, du schläfst dich mal wieder richtig aus!“
„Glaubst du allen Ernstes, dass ich schlafen kann, wenn mein Sohn kräht?“
„Du solltest dich daran gewöhnen, es ist schließlich auch mein Sohn“, dabei schenkte ich meinem Schatz einen Luftkuss.
„Vielleicht sollten wir es uns angewöhnen, abends auch zeitig zu Bett zu gehen, zumindest so lange, bis Michael durchschläft“, meinte Markus, meinen Luftkuss erwidernd.
„Dann sollten wir gleich damit anfangen, mir wäre nach richtigem Küssen, und ich hätte vielleicht auch Lust auf etwas mehr“, antwortete ich, und nahm ihn dabei an den Händen, um ihn umgehend in unser Schlafzimmer zu ziehen.
Die Nacht war dann wirklich sehr kurz, Markus hatte nicht übertrieben, gefühlte zwei Minuten, nachdem ich eingeschlafen war, wurde ich durch den ziemlich kräftigen Ton unseres Sohnes auch schon wieder geweckt. Ich zog Markus, der bereits ein Bein aus dem Bett hatte, wieder zurück, hieß ihn liegen zu bleiben und weiterzuschlafen, was er dann auch tatsächlich machte.
Ich genoss diese nächtlichen Minuten mit unserem Sohn, denn dann hatte ich ihn ganz für mich alleine, erzählte ihm von seinen Großeltern, auch wenn er es noch nicht verstand.
Dass George W. Busch an diesem Tag als dreiundvierzigster Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt wurde und auf den Philippinen Präsident Joseph Estrada unblutig gestürzt wurde, waren Trivialitäten im Vergleich zu unserer endlich wieder vereinten Familie.
Kapitel 5 – Markus
Als wir gestern von Oberhaching Richtung Rheinland fuhren, hörten wir im Autoradio, dass amerikanische und britische Lufteinheiten, Ziele in der Nähe Bagdads bombardiert hatten, als Reaktion auf die Verletzung des Flugverbotes sei-tens des Iraks.
Im Nahen Osten brodelte es mal wieder gewaltig, wobei sich mir als Journalisten die Frage aufdrängte, ob der Konflikt in Wirklichkeit von dem Amis angezettelt worden war, damit diese mal wieder ihre neuesten Waffensystem ausprobieren konnten.
So sehr ich immer noch den Tod meiner Schwester und meines Schwagers betrauerte, war ich auf der anderen Seite nicht unglücklich darüber, dass es Michael erspart geblieben war, in Israel aufzuwachsen. Dort wäre er ständig der Bedrohung eines neuen Krieges ausgesetzt gewesen, da sowohl die Araber als auch die Israelis andauernd Öl ins Feuer gossen. Auch stand zu bezweifeln, dass es unter dem Zionisten Scharon besser werden würde. Dieser galt als Hardliner, war schon in der Hagana aktiv gewesen und hatte ab 1952, unter Moshe Dajan, hinter feindlichen Linien auf Kommandoebene gekämpft. Von ihm erwartete ich nicht, dass er Friedenstauben auf-steigen lassen würde.
Zweimal hatte Michael in der letzten Nacht nach seiner Flasche verlangt, mittlerweile schlief er nahezu vier Stunden am Stück.
Meine Mutter hatte es sich nicht nehmen lassen, ihn in der Zeit, die wir bei ihr verbrachten, zu versorgen, so dass ich mich am Morgen, seit längerer Zeit mal wieder halbwegs ausgeschlafen fühlte, obwohl es noch sehr früh war, als ich auf den Wecker blickte. Josefs Atem verriet mir, dass er noch tief schlief. In mir erwachten gewisse Begehrlichkeiten, und so entschied ich, mich näher an ihn heranzukuscheln, in der Hoffnung, dass er bald mit ähnlichen Gefühlen aufwachen würde.
Als wir gegen neun Uhr zum Frühstück er-schienen, hatte meine Mutter schon den Tisch gedeckt und sah ihrem Enkel, der mit geballten Fäustchen in einem Reisebett lag, beim Schlafen zu.
Während wir frühstückten, machten wir einen Plan, wie wir den Tag organisieren wollten. In jedem Fall sollte der Besuch bei meinem Vater am frühen Nachmittag stattfinden. Michael brauchte im vierstündigen Rhythmus sein Fläschchen und danach seinen Mittagsschlaf. Da er um halb sieben die letzte Flasche getrunken hatte, würde er in einer guten Stunde wieder hungrig sein. Wir überlegten, bis er gewickelt und gefüttert war und sein Bäuerchen gemacht hatte, würde es wohl auf elf Uhr zugehen.
Das passte prima! Für die rund siebzig Kilometer bis Bad Camberg würden wir eine gute Stunde brauchen, wenn wir über die Autobahn fuhren. Das Wiesbadener Kreuz war aufgrund einer Baustelle ein Nadelöhr, was wir umfahren könnten, dafür aber durch die ganze Stadt fahren, und ein gutes Stück Landstraße in Kauf nehmen müssten. Wir entschieden uns für das Nadelöhr.
Papa gefiel mir gar nicht. Ich hatte erwartet, dass er sich freuen würde, endlich seinen Enkel zu sehen und in die Arme schließen zu dürfen und wurde umso mehr enttäuscht, als er uns mehr oder minder apathisch empfing und offensichtlich wenig Interesse hatte, Michael als neuestes Fa-milienmitglied in die Sippe aufzunehmen.
„Was hast du erwartet?“, fragte mich meine Mutter etwas später, als wir beide uns darum kümmerten, dass der Kleine gewickelt und gefüttert wurde, während Josef meinen alten Herrn bespaßte.
„Ich habe dir doch gesagt, dass er eine schwere Depression hat“, fügte sie noch hinzu. Um mir kurz darauf zu sagen, sie sei der Meinung, dass es mir ähnlich ginge, auch ich mache auf sie einen depressiven Eindruck. Ich versuchte, ihr diesen Gedanken auszureden, hatte aber damit keinen Erfolg, dafür war sie zu sehr Ärztin, wenngleich die Psyche nicht zu ihrem Fachgebiet zählte.
„Du nimmst jetzt deinen Josef und ihr dreht mit Michael im Kurpark ein paar Runden, in der Zwischenzeit rede ich mit Bernd. Der ist im Moment nicht wirklich in der Lage einen auf Familie zu machen, den quälen gerade andere Sorgen. Lasst mich mal für eine dreiviertel Stunde mit ihm allein, danach sehen wir weiter.“
Im Kurpark zog es derart lausig, dass wir uns innerhalb kürzester Zeit dafür entschieden, Zuflucht in der Cafeteria der Kurklinik zu suchen, die jetzt, kurz nach der Mittagszeit kaum frequentiert wurde. Da wir seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatten, nutzten wir die Auswahl der lecker aussehenden Kuchen, um unseren Hunger vorübergehend zu stillen.
Die Cafeteria grenzte direkt an die Lobby, so dass man durch die Glasfront einen guten Blick auf das Kommen und Gehen hatte. Plakate an der Stirnwand und hinter dem Tresen warben für eine Faschingsveranstaltung, die am gleichen Abend stattfinden sollte.
Wir wollten uns gerade wieder zu meinem Vater begeben, als zwei Damen, Richtung Ausgang eilend, einen Blick in die Cafeteria warfen, auf dem Absatz umdrehten und zielstrebig unseren Tisch ansteuerten.
„Sie sind bestimmt Herr Mendel“, eher be-stimmend als fragend, streckte eine der beiden Josef die Hand hin, sich selbst als Sigrid vorstellend. Josef, der ob dieses Überraschungsangriffs etwas perplex war, ergriff die dargebotene Hand und stellte sich mit „Josef Heiland“ vor. Dabei wies er mit der anderen Hand auf mich. Derweil beäugte die zweite Dame Michael, der immer noch friedlich schlafend in seinem Kinderwagen lag.
„Und du bist Bernds Enkelsohn Michael“, sagte sie ganz leise zu ihm. Also musste mein Vater doch über seinen Enkel gesprochen haben. So kalt schien es ihn wohl doch nicht zu lassen, überlegte ich, wurde aber unsanft aus meinen Gedanken gerissen, als Josef mir einen kleinen Rempler verpasste. Ich hatte tatsächlich die dargereichte Hand Silvias, wie sich die Kindsbetrachterin mir nun vorstellte, nicht bemerkt. Ich entschuldigte mich umgehend und lud die beiden Damen zu Kaf-fee und Kuchen ein. Sie lehnten danken ab, mit dem Hinweis auf ein Café im Ort, dessen Torten unübertrefflich seien. Sie wären auf dem Weg dorthin, wollten nur mal schnell einen Blick auf den Kleinen werfen.
Bis die Damen dann ihren begehrten Tor-tenstücken zustrebten verging doch noch geraume Zeit, in der wir erfuhren, wieviel mein Vater von unserem Familienleben bei den Tischgesprächen preisgegeben hatte. Die Ladys waren bestens informiert.
Nachdem sie endlich gegangen waren, fragte ich Josef, ob er das merkwürdige Veralten meines Vaters verstehen würde. Er schüttelte nur verneinend den Kopf und meinte, es sei wohl an der Zeit, dass wir uns wieder im Zimmer meines Vaters blicken ließen.
„Wir sitzen jetzt schon seit eineinhalb Stunden hier, ich denke, deine Eltern haben genügend Zeit gehabt, um sich auszusprechen, oder was meinst du?“, meinte Josef. Seinem Ton entnahm ich, dass er leicht genervt war, vermutlich durch das Geschwätz der beiden Frauen, die uns unser eigenes Leben in den letzten Monaten erzählt hat-ten.
„Ja, lass’ uns wieder hochgehen, vielleicht erfahren wir ja mehr, wenn wir ihm gleich erzählen, wen wir hier getroffen haben und ihn damit konfrontieren, dass uns die Ladys unser ganzes Leben erzählt haben.“
Im Zimmer herrschte eine frostige Atmosphäre. Mein Vater sagte gar nichts und meine Mutter hatte sich in Rage geredet.
„… du wirst mit meiner Entscheidung leben müssen, hattest genügend Zeit, um deine eigene Vorstellung zu artikulieren!“, hörten wir noch, als wir die Tür gerade öffneten.
„Dicke Luft?“, fragte ich, um dann sofort unser neues Wissen kundzutun, „es ist schon sehr merkwürdig Dad, dass du hier offenbar Kreti und Pleti von deiner Familie erzählst, dass du Opa geworden bist und unter welchen Umständen wir aus Israel getürmt sind. Dabei zeigst du kein Interesse an deinem Enkel!“
Nachdem er zuerst mal wie ein betroffener Pudel, ziemlich dumm aus der Wäsche geschaut hatte, kam er mit einer, mir lahm klingenden, Erklärung rüber.
„Es ist halt alles zu viel, Katharina, von der ich wahnsinnig enttäuscht bin, auch wenn man über Tote nichts Schlechtes sagen soll. Dann deine Aktion im Krankenhaus in Bethlehem. Jetzt wollt ihr auch noch den Jungen erziehen und deine Mutter hat nichts Besseres zu tun, als meine Praxis so schnell wie möglich zu verhökern!“
Ich sagte nichts dazu. Mir war schon klar, dass er mich für Katharinas Tod verantwortlich machte, wobei ich mir selbst immer noch Vorwürfe machte, und mich außerdem Alpträume plagten, von denen ich bisher keinem erzählt hatte. Sowohl Josef als auch meine Mutter ahnten es, vor allem Mama wollte mir unbedingt einen Seelenklempner auf-schwatzen. Wie ich sie kannte, würde sie das Wochenende dazu nutzen, Josef auf ihre Seite zu ziehen. Die beiden kamen super miteinander aus.
Als Michael, nach seinem Mittagsschlaf frisch gewickelt und gefüttert, an Josefs Schulter liegend, sein Bäuerchen gemacht hatte, war mein Vater endlich bereit, seinen Enkel in die Arme zu nehmen. Dad, der auf seinem Bett lag, hatte sich den Kleinen auf den Bauch gelegt, wo dieser kurz davor war, wieder einzuschlafen.
„Du kannst ja nichts dafür“, flüsterte Dad ihm zu, „dann wollen wir alle mit vereinten Kräften daran arbeiten, dass aus dir ein selbständiger und erfolgreicher Mensch wird!“ Na also, geht doch, dachte ich bei mir.
Das Wochenende ging viel zu schnell vorbei. Bis wir samstags wieder in meinem Elternhaus ankamen, war es schon so spät, dass wir uns, nachdem wir unseren Sonnenschein versorgt hatten, unser Essen wieder einmal in einem Restaurant abholten.
Und dann war es ratzfatz Sonntagnachmittag und wir saßen wieder im Auto auf dem Weg zurück nach Oberbayern.
Kapitel 6 – Bernd
Wir hatten schon Mitte März und ich war immer noch in der Reha-Klinik in Bad Camberg. Mittlerweile war der Vertrag mit Doktor Sahdi, meinem Praxisnachfolger unterschrieben. Er war zu diesem Zweck eigens hierhergekommen, was ich ihm hoch anrechnete. Vor allem ließ er sich viel Zeit, um mir ausführlich sein Konzept zu erläutern. Ich muss zugeben, dass hörte sich nicht nur gut an, das war von Anfang bis Ende gut durchdacht.
Er bat mich, ihm in den ersten Monaten beratend zur Seite zu stehen. Würden wir die Patienten zu zweit empfangen, wäre die Hemmschwelle niedriger, sich von einem fremdländischen Arzt be-handeln zu lassen, war seine Überlegung. Mir war das mehr als recht, erhielt ich dadurch doch die Möglichkeit, mich von den meisten meiner Patienten persönlich zu verabschieden. Außerdem brauchte ich nur vormittags präsent zu sein und etwas Geld würde ich auch noch verdienen.
Bei Irene musste ich Abbitte leisten, sie hatte mit ihrer Entscheidung, ihm die Nachfolge anzubieten, völlig richtig gelegen. Doktor Sahdi war ein überaus zuvorkommender, kultivierter Mann, dessen Interessensgebiete vielseitig waren. Wir teilten die Leidenschaft für klassische Musik und Literatur, und genau wie ich, begeisterte er sich für fremde Kulturen und liebte das Reisen.
Kurz nachdem die Jungs mit meinem Enkel da waren, wurden Sigrid und Silvia entlassen, sodass nun zwei neue Leute an meinen Tisch im Speisesaal saßen. Jetzt war es ein reiner Herrentisch, für mich eine willkommene Abwechslung nach den oftmals gemischten Tischen, wo es ständig Konkurrenz, sowohl unter den Männern als auch unter den Frauen, gab, wenn jemand anbändeln wollte.
Unsere Gespräche drehten sich meistens um Politik. Manchmal sprach einer der anderen auch das Thema Sport an, allem voran ging es da um Fußball, wofür ich mich schon von Kindesbeinen an nicht begeistern konnte.
Einig waren wir darüber, dass die Taliban mit der Zerstörung der beiden, aus dem fünften Jahrhundert stammenden Buddha Statuen in Bamiyan, in Afghanistan, einen irreparablen Frevel begangen hatten. Allerdings war das nichts im Vergleich zu den Gräueltaten, welche von den Taliban mit Unterstützung durch die Al-Qaida, seit 1996 systematisch an der Zivilbevölkerung verübt wurden.
Es war schon interessant zu erfahren, welche politischen Ansichten meine Tischnachbarn so vertraten. Bei Gottfried, einem sechzigjährigen Bayer, aus der Nähe von Rosenheim, waren die CSU-Doktrinen so verankert, dass er wohl noch nie den Wahrheitsgehalt derer Pamphlete in Frage ge-stellt hatte. Wolfram, sechsundfünfzigjähriger Hamburger mit eigener Firma, vertrat die Ansichten der FDP. Mein Herz schlug viel weiter links, wobei ich tendenziell parteiunabhängig bin. Bartok, der ebenfalls zu unserer Tischrunde zählte, schied aus, da er als Ungar zwar eine Mein-ung hatte, in Deutschland aber nicht wählen durfte.
Wir diskutierten unter anderem lange darüber, ob die Eidgenossen, sich bei ihrer Volksabstimmung Anfang des Monats, wo sie mehrheitlich einer Aufnahme von Gesprächen zum Beitritt zur EU ablehnten, einen Gefallen getan hatten. Mehr als Zweidrittel hatten der Initiative ‘Ja zu Europa’, eine Absage erteilt und das bei einer recht hohen Wahlbeteiligung. Immerhin waren fast 56% der Wahlberechtigten zu den Urnen geeilt. In meinen Augen war das wieder mal absolut typisch für die Schweiz. Immer stur die Unabhängigkeit bewahren. Die wirtschaftlichen Vorteile, die ihnen der Beitritt zu Union bringen würden, wurden ignoriert. Was mich aber am meisten aufregen konnte, war die Ignoranz, mit der viele Schweizer der Aufforderung, ihre Stimme abzugeben, einfach nicht nachkamen. Da hatten sie, in meinen Augen, eines der bestfunktionierenden demokratischen Staatssysteme und nutzten es nicht.
Wir wären dankbar, wenn unsere Regierung an unserer Meinung interessiert wäre, und wir uns nicht nur alle vier Jahre für das kleinere Übel entscheiden müssten, sondern aktiv an politischen Entscheidungen mitwirken könnten.
Am kommenden Dienstag sollte ich entlassen werden, weitere therapeutische Maßnahmen konnten ambulant durchgeführt werden. Ich sprach wieder fließend, wenngleich mir immer wieder einzelne Wörter nicht einfielen, und ich dann umschreiben musste, was ich ausdrücken wollte.
Irene hatte mir ein Wörterbuch und einen Duden mitgebracht. Mit diesen Werken trainierte ich täglich meinen Wortschatz. Wenn ich Doktor Sahdi, der am zweiten April die Praxis übernehmen würde, zur Hand gehen sollte, dann wollte ich soweit fit sein, dass meine ehemaligen Patienten mich verstehen konnten.
Was noch nicht funktionierte, war das Laufen, ich zog das linke Bein immer noch leicht nach, trotz wochenlanger Ergotherapie.
Und an meiner Psyche musste noch viel gearbeitet werden. Da lagen mehr Leichen im Keller, wie die Therapeutin das ausgedrückt hatte, als ich mir selbst eingestehen wollte. Um einen wirklich guten Therapeuten zu finden, würde ich mich entweder in Mainz oder Bad Kreuznach umsehen müssen, in Bingen hät te ich wohl keine Chance, hatte ich mir nach der letzten Therapiestunde überlegt.
Das Entlassungsgespräch mit dem Chefarzt war auf Montagnachmittag terminiert. Ich war gespannt, was er mir mit auf den Weg geben würde. In regelmäßigen Abständen hatte ich Gespräche mit ihm geführt, bei denen er mir immer wieder neue Denkanstöße vermittelte.
Als ich mich, kurz nach Beginn der Therapie., bei ihm über das ruppige Verhalten der Psychotherapeutin beklagen wollte, hatte er mir schnell den Wind aus den Segeln genommen. Eine Psychotherapie sei kein Kuraufenthalt, da hieße es, hart an sich zu arbeiten und auch den unangenehmen Dingen, die man dabei über sich selbst erfuhr, ins Auge zu blicken, beschied er mir. Bei manchen Patienten sei der ruppige Ton, wie ich mich auszudrücken beliebe, durchaus ange-bracht. Die Kollegin sei eine anerkannte Kapazität.
Kapitel 7 – Josef
Wir schrieben den vierundzwanzigsten April, Michael war nun genau vier Monate alt. Die erste Sechsfachimpfung hatte er schon erhalten und entwickelte sich so, wie man es erwarten konnte. Er war ein fröhliches Kind. Wenn er wach war, brabbelte er in einem fort vor sich hin. Spielte man das Kuckuck-Spiel mit ihm, durfte man sich seines Glucksens und Lachens sicher sein. Schon nach kurzer Zeit zog er sich das Tuch selbst vom Gesicht und wartete darauf, dass man Kuckuck rief.
Für kurze Zeit waren wir als junge Familie dem Dorftratsch ausgesetzt gewesen, was sich aber sehr schnell legte, allein schon dadurch, dass wir die Untersuchungstermine beim Kinderarzt möglichst zusammen wahrnahmen. Mit Kind hatten wir von plötzlich einen viel größeren Bekanntenkreis.
Markus, als Journalist eh weit extrovertierter als ich, ratschte mit jeder jungen Mutter, und auch mancher Vater konnte sich seiner Neugier nicht entziehen, wobei er aber immer strickt darauf achtete, die genauen Umstände unserer Vaterschaft zu verschweigen.
Am ersten April hatten sich in den Niederlanden die ersten vier homosexuellen Paare standesamtlich trauen lassen, knapp sechs Monate nach der Legalisierung der gleich-geschlechtlichen Ehe. Markus und ich diskutier-ten lebhaft darüber, ob wir so etwas auch tun wollen, wobei mir wieder in den Sinn kam, dass ich mich ja zunächst noch scheiden lassen musste. Dass wir bis zur Ehe für alle noch fast siebzehn Jahre würden warten müssen, konnten wir uns damals nicht vorstellen.
Um Markus Drängen zu entgehen, rief ich am Fünften meine Ex auf ihrem Handy an mit dem Hinweis, dass es Zeit wäre, sich scheiden zu lassen.
„Hast du eine Neue?“, fragte sie, worauf ich ihr antwortete, dass ich nun mit einem Mann zusammenlebe und wir darüber hinaus auch einen Sohn hätten. Meine Antwort hatte ihre Neugierde geweckt, und so kam es, dass wir uns noch in der gleichen Woche beim Griechen in Unterhaching trafen und uns dort auf einen gemeinsamen Anwalt einigten. Natürlich wollte sie alles wissen, wann und wo ich Markus kennen gelernt hatte und wieso wir einen Sohn hatten, ob Markus denn auch verheiratet gewesen sei …, Fra-gen über Fragen, bei denen ich, stellenweise eine Antwort schuldig bleiben musste.
Am dreizehnten April waren Eli und Joshua zu einem viertägigen Besuch aus Tel Aviv angereist. Eli wollte seinen Neffen so oft es möglich war sehen, und die beiden hatten schon an Silvester davon gesprochen, dass wir uns mindestens zweimal im Jahr treffen sollten, damit sie Michaels Entwicklung mitbekämen.
So kam es, dass wir Ostern nicht zu Irene und Bernd fuhren, die ihren Enkel an seinem ersten Osterfest bestimmt gerne um sich gehabt hätten.
Damit wir nicht zu viel Aufwand betreiben mussten, hatten sich Eli und Joshua am Franz-Josef-Strauß Flughafen, bei einem der dort zahl-reich vertretenen Leihwagen Unternehmen einen Wagen gemietet, und das Navi hatte sie zuverlässig zu uns gelotst. Ein Zimmer hatte ich für sie im Hotel Abendruhe gebucht und im Voraus bezahlt, ein kleines Dankeschön für ihre Unterstützung, ohne die wir den Kraftakt in Bethlehem nicht hätten stemmen können.
Da ihr Besuch auf das Osterwochenende fiel, brauchte ich mein Geschäft nicht zu vernachlässigen und wir hatten zudem Zeit, uns ausgiebig unserem Besuch zu widmen.
Eli erzählte beim freitäglichen Abendessen von den Anstrengungen, die sein Vater und seine beiden älteren Brüder unternommen hatten, um herauszufinden, wie es uns gelungen war, Michael aus der Klinik zu entführen.
Etwas anderes als eine Entführung war es in ihren Augen nicht, und der alte Weizmann hatte sogar Anzeige gegen Amira erstattet, wegen Beihilfe. Dabei hatte sie ja mit ihrer Weigerung, Elis Brüdern ihren Neffen auszuhändigen, verhindert, dass Michael bei der falschen Familie aufwuchs. Amira war daraufhin von der Polizei verhört worden, weiter war aber bislang nichts geschehen.
„Kann da noch etwas kommen?“, wollte Markus von Eli wissen, der bestätigte, dass dem vermutlich so sein werde. Der Weizmann Clan war mächtig und verfügte über genügend Geld, um notfalls den Staatsanwalt zu schmieren. Korruption war in Israel gang und gäbe, Und wenn dieser Staatsanwalt nicht käuflich war, erstattete man halt eine weitere Anzeige, denn irgendwann landete so eine mal bei einem geldgierigen Beamten.
Was bei mir die Alarmglocken ins Schwingen brachte, war, dass Elis Bruder Schmuel versucht hatte, seine Kontakte zum Geheimdienst dazu zu nutzen, um über deren in Deutschland operierenden Mitarbeiter Michael entführen zu lassen, was Eli im Verlauf des Abends eher beiläufig erwähnte.
„Wieso hat dein Bruder Kontakte zu eurem Geheimdienst?“, fragte ich besorgt.
„Das ist ein Relikt aus seiner Zeit beim Militär, antwortete Eli. Einige seiner damaligen Kumpels seien, nach ihrem dreijährigen Dienst in der Armee, beim Aman, dem Mossad oder dem Shin Bet untergekommen. Dass seine Einheit 1982 bei der Operation ‚Frieden für Galiläa‘, wie man in Israel den ersten größeren Arabisch-Israelischen Konflikt nannte, der von Israel ausgegangen war, in diesem Scharmützel eingesetzt war, und Schmuel sowie weitere Kameraden dabei verwundet wurden, sei mit ein Grund, warum diese Verbindungen bestünden.
„Mit demjenigen, mit dem du gleichzeitig verwundet wurdest, und mit dem du vermutlich im selben Lazarett wieder zusammengeflickt wurdest, unterhältst du Verbindung bis du stirbst“, trug Joshua zur Erklärung bei.
Markus war bleich geworden. Ich sah wie seine Hände zitterten, wie er panisch wurde. Seine Gedanken kreisten um Flucht, so vermutete ich. Flucht wohin? Wenn es Schmuel gelang, den Mossad einzuschalten, dann waren wir nirgends auf der Welt sicher. Wie effektiv diese Organisation war, wusste man spätestens seit 1960, als sie Josef Eichmann in Argentinien aufgespürt, entführt und nach Israel verfrachtet hatten, wo er zum Tod durch den Strang verurteilt wurde.
„Woher weißt du das“, fragte Markus, dessen Stimme eine bedrohlich hysterische Höhe angenommen hatte, „ich dachte, du seist das schwarze Schaf in der Familie und dass man nicht mehr mit dir redet?“
„Weder mein Vater noch meine Brüder kämen auch nur ansatzweise auf die Idee, mir das zu erzählen“, antwortete Eli, nachdem er sein Bierglas abgesetzt und sich den Schaum vom Mund gewischt hatte. „Wir besprechen ausschließlich Geschäftliches.
Esra hat Wind von der Sache bekommen und es Josh gesagt“, dabei blickte er seinen Partner aufmunternd an.
„Du weißt, dass ich über meine Arbeit nicht reden kann“, sagte Josh zu Eli, wobei man das Funkeln seiner Augen bestimmt nicht als freundlich interpretieren konnte. War Josh etwa selbst beim Mossad, fragte ich mich? Wenn ich daran zurückdachte, wie die beiden meine Ausreise aus Israel organisiert hatten, war dies eine logische Schlussfolgerung.
„Mossad sagt mir etwas, aber Aman und Shin Bet? Was sind das für Vereine?“, wollte ich von Josh wissen.
„Ihr könnt beruhigt sein. Der Antrag hat Esras Büro nie verlassen, weder auf elektronischem noch auf einem anderen Weg, wenn man den Inhalt des Schredders mal außen vorlässt“, versuchte Joshua uns zu beruhigen, mehr sagte er allerdings nicht. Dafür ergriff Eli wieder das Wort und erklärte uns, dass es sich bei Aman um den Militärischen, und bei Shin Bet um den Inlandsgeheimdienst handelt.
Wir waren alles andere als beruhigt. Eine Anzeige gegen Amira, die Staatsanwaltschaft auf dem Plan. Kontakte zu einem der effektivsten Auslands-geheimdienste, den man jederzeit wieder ein-schalten konnte. Was würde als Nächstes kommen. Die Weizmanns vermuteten ja bereits, dass sich das Beatmungsgerät nicht von selbst ausgeschaltet hätte.
Ich hatte größte Mühe Markus zu beruhigen, als wir an diesen Abend endlich im Bett lagen. Ich fragte mich, wie wir diese Bedrohung hatten übersehen können.
Hatten wir sie wirklich übersehen oder hatten wir sie nur verdrängt?
Die vergangenen vier Monate waren einfach viel zu turbulent gewesen. Ständig gab es etwas zu tun, zum Verschnaufen blieb einfach keine Zeit. Inwieweit sich Markus darüber Gedanken gemacht hatte, wusste ich nicht.
Bei ihm ging es auch drüber und drunter.
Die Tageszeitung, für die er gearbeitet hatte, eines der großen Münchner Boulevardblätter, hatte ihm, nachdem er am siebten Januar nicht aus dem Urlaub zurückgekehrt war, zwar bis Ende des Monats unbezahlten Urlaub gewährt, aber eine weitere Verlängerung, um die er gebeten hatte, abgelehnt. Sie hatten ihm stattdessen fristgemäß gekündigt.
Er wollte gegen die Kündigung klagen, aber ich riet ihm davon ab. Die Erfolgsaussichten waren nicht gerade rosig und außerdem wollte ich, dass er erst einmal seine Therapie machte. Ich verdiente genug, um uns drei, mehr als über Wasser zu halten. Wir konnten mit meinem Verdienst zwar keine drei Fernreisen im Jahr machen, aber um gut zu leben, reichte es allemal.
Dann gab es auch noch eine Auseinandersetzung mit seinen Eltern, die bei einem der zahlreichen Telefonate auf die glorreiche Idee gekommen waren, das Thema Taufe anzusprechen.
„Michael wird nicht getauft“, war Markus knappe Antwort auf Irenes Frage nach dem Termin. Ich hatte das Gespräch per Lauthörfunkton mitverfolgt. Irene insistierte, wollte wissen, warum wir Michael nicht taufen lassen wollten. Nachdem Markus sie an Michaels Geburtsurkunde erinnert hatte, in der er unter dem Namen Jonathan Mendel, mit israelischer Staatsangehörigkeit und unter der Rubrik Religionszugehörigkeit Jude eingetragen war, war dieses Thema fürs Erste vom Tisch.
Ich schlief schlecht in dieser Nacht und wachte nach einem Alptraum schweißgebadet auf. In meinem Traum war Markus zusammen mit Michael entführt worden und die Polizei stand vor einem Rätsel, da keine Lösegeldforderungen gestellt wurden. Jahrelang blieben die beiden wie vom Erdboden verschwunden, kein Lebens-zeichen, nichts. Ich pilgerte zu Fuß durch den Nahen Osten, auf der Suche nach ihnen, völlig ver-armt, von den Almosen Barmherziger am Leben gehalten. Die Einreise nach Israel hatte man mir verweigert, mich an der Grenze als Persona non grata zurückgewiesen, so dass ich mit dem nächsten Flug wieder zurückfliegen musste…
Nachdem ich mich geduscht und rasiert hatte, saß ich mit einer Tasse Kaffee in unserer Küche und bekam diesen Traum nicht aus dem Kopf. So unlogisch das Ganze. Erst verlumpt und zu Fuß und in der nächsten Sequenz sah ich den Transitbereich des Ben Gurion Airports in Tel Aviv vor mir, wo man mich als unerwünschte Person zurückwies.
Das Babyphone holte mich endgültig in die Realität zurück. Da war jemand wach, wie mir das fröhliche Gebrabbel unmissverständlich vor Augen führte. Gleich würde aus dem Gebrabbel ein forderndes Brüllen werden, wenn der junge Mann realisierte, dass er zum einen Hunger und zum anderen die Windel voll hatte.
Nachdem ich den Kleinen versorgt hatte und er mit seiner Rassel spielend sicher angegurtet in seiner Wippe lag, begann ich unser Frühstück vorzubereiten. Wenig später betrat auch Markus die Küche, gab Michael einen Kuss und kam dann zu mir, nahm mich in den Arm, küsste mich und sagte: „Ich habe eine Scheißangst!“
„Ich auch“, gestand ich ihm. Eigentlich wollte ich ihm von meinem Traum erzählen, aber das würde seine Angst nur noch weiter schüren und er war eh schon ein Nervenbündel. Einer musste stark bleiben, gewappnet sein für das, was da sicher noch auf uns zukommen würde.
Kapitel 8 – Irene
Seit seinem Besuch Anfang des Jahres hatten wir unseren Enkel nicht mehr gesehen. Ostern hatten Markus und Josef ja Besuch von Michaels Onkel und dessen Lebensgefährten, so dass sie nicht zu uns kommen konnten. Umso mehr freuten wir uns auf das bevorstehende Wochenende, das mit dem heutigen Himmelfahrtstag begann.
Die junge Familie war seit halb acht Uhr unter-wegs, Markus hatte kurz vor ihrer Abfahrt angerufen. Die Küchenuhr zeigte kurz vor Zehn, Zeit genug, um sich eine Tasse Kaffee zu gönnen, bevor ich mich den Vorbereitungen für das Mittagessen widmen musste.
„Möchtest du auch einen Kaffee?“, rief ich Bernd, der es sich draußen mit einem Buch gemütlich gemacht hatte, durch die geöffnete Terrassentür zu.
„Lieber was Kaltes“, war seine Antwort. Sein Wunsch war mir Befehl. Ich wollte ihn gerade fragen, ob er eine Saftschorle oder Wasser wollte, als er in der Tür erschien.
„Ein Glas Wasser, bitte“. Als er sich mit dem Gewünschten wieder in Richtung seines Stuhls bewegte, sah ich, dass er das linke Bein immer noch leicht nachzog. Da würden noch einige Ergotherapie Stunden auf ihn zukommen.
Ich war froh, dass er einen guten Psycho-therapeuten in Bad Kreuznach gefunden hatte. Bingen oder Ingelheim wäre sicher näher gewesen und hätte mich nicht so viel Fahrzeit gekostet, denn Auto fahren konnte Bernd noch nicht wieder. Ob und wann das möglich sein würde, darüber schwieg sich der behandelnde Neurologe beharrlich aus. Immerhin hatte der Therapeut sich bereit erklärt, die Stunden auf den Mittwochnachmittag zu legen, wo meine Praxis geschlossen war.
Die Praxis lag im Kurviertel, und während Bernd psychisch auf Vordermann gebracht wurde, bummelte ich, bei gutem Wetter entlang der kleinen Geschäfte, oder saß direkt im Quellenhof, auf der anderen Naheseite, unweit des Eingangs zum Radonstollen gelegen.
Dort nahmen wir auch immer öfter unser Abendessen ein, wenn es uns nicht nach Heddesheim, in den Kaiserhof trieb, wo wir schon seit Ewigkeiten Stammgäste waren.
Die Radonbehandlung hatte ich schon einigen meiner, an chronischen Gelenkschmerzen erkrankten, Patienten empfohlen. Radon ist ein hochtoxischer Stoff. Er steht nach dem Rauchen, als Ursache für Lungenkrebs, an zweiter Stelle, kann aber in sehr hoher Konzentration für kurze Zeit inhaliert, dazu führen, dass an chronischen Gelenkschmerzen Erkrankte, für einige Zeit auf die Einnahme ihrer Medikamente verzichten können und unter Umständen sogar fast schmerzfrei sind.
Darüber hatte ich früher oft mit Bernd diskutiert, der allerdings einen anderen Standpunkt vertrat und solche Behandlungen schlichtweg ablehnte.
Als ich mich mit meinem Kaffee draußen zu ihm gesellte, wollte er wissen, was es zum Mittagessen gäbe.
„Na was wohl, in der Spargelzeit?“, verwundert über diese Frage schüttelte ich den Kopf.
„Was es dazu gibt, möchte ich wissen. Dass du Spargel servierst war ja eben in der Küche nicht zu übersehen!“
„Neue Kartoffeln, verschiedene Schinkensorten und eine Sauce du Pêche“, beantwortete ich seine Frage.
„Sauce du Pêche? Nie etwas davon gehört. Was soll das denn sein?“
„Nichts anderes als eine Sauce Hollandaise aus der Packung, aufgemotzt mit einem Schuss Pfirsichlikör, einer Prise buntem Pfeffer und verfeinert mit einem Hauch Ingwer!“ Ich machte meine Spargelsauce schon seit Jahren so, hatte ihr nur nie einen anderen Namen verpasst.
„Was liest du zurzeit?“, fragte ich Bernd, und griff nach dem Buch, das mit dem Einband nach oben, offen auf dem Tisch lag, dessen Titel ich aber nicht entziffern konnte.“ James A. Michener CHESEPEAKE, las ich. „Hast du das Buch nicht schon mal auf Deutsch gelesen?“, wand ich mich an Bernd.
Er bestätigte meine Frage und erklärte mir, dass es in englischer Sprache für ihn leichter sei, sein Vokabular aufzufrischen.
Michener war einer von Bernds Lieblingsautoren, und ich hatte ihm in den vergangenen Jahren oft Bücher dieses amerikanischen Autors geschenkt. Alles dicke Wälzer, die Bernd immer in kürzester Zeit verschlungen hatte. Einige dieser wirklich hoch interessanten Romane hatte ich auch gele-sen, meist im Urlaub, wenn ich Zeit hatte, mal für längere Zeit in ein Buch zu schauen.
Micheners Stil gefiel auch mir , aber seine Art oder Unart, je nach Sichtweise des Betrachters, ganze Szenen über mehrere Dutzend Seiten zu beschreiben, machten diese Werke für eine Bettlektüre schwierig.
Nachdem ich meinen Kaffee ausgetrunken hatte, überlies ich Bernd wieder seinem Michener und begab mich zurück in die Küche, um den Spargel zu schälen.
Kurz vor zwölf läutete es an der Haustür, und kurze Zeit später hörte ich, wie Bernd die jungen Herren begrüßte.
„Hallo Mama, wir sind da“, Markus, dessen Kopf sich hinter einem riesigen Blumenstrauß versteckte, lugte durch die Küchentür.
„Sind die etwa für mich`“, fragte ich. Es entsprach nicht Markus Art, Blumen zu schenken. Selbst zu Muttertag ließ er sich immer etwas anderes einfallen, Blumen fand er langweilig.
„Josefs Idee, nicht meine“, lachte er. „Du kennst mich doch.“
„Und warum überreicht sie mir dann dein Freund nicht selbst? Wo steckt der überhaupt?“
„Der musste ganz dringend für kleine Jungs, oder besser gesagt Königstiger, bei der…! Ups, jetzt hätte ich beinahe etwas ausgeplaudert, was ihm bestimmt nicht recht wäre. »Da kommt er ja, dann darf er dir das Gemüse selbst überreichen.«
»Hallo Irene“, Josef gab mir links und rechts Küsschen, drückte mich dann fest an sich und nahm schließlich Markus die Blumen aus der Hand, um sie mir galant zu überreichen. Nachdem ich die Blumen versorgt hatte, bekam ich auch von Markus Küsschen.
„Wo habt ihr denn den Kleinen gelassen?“
„Um Michael kümmert sich Bernd“, beantwortete Josef meine Frage. Da hörte ich auch schon von der Terrasse ein helles Glucksen, Michael schien von Opas Bespaßung begeistert zu sein.
„Puh, du riechst aber verdammt streng…“, hörten wir Bernds Stimme.
„Dann werde ich unsrem Sohn mal eine frische Windel verpassen“, sagte Markus, zu Josef gewandt, „kümmerst du dich ums Futter?“
„Mach‘ ich mein Hase. Der Part ist mir auch viel lieber.“
„Kann ich mir denken“, rief Markus, der sich schon auf die Terrasse begeben hatte.
Während Markus den Kleinen wickelte, berichtete Josef mir, was die Weizmanns getan hatten. Mir wäre vor Schreck fast die Vorlegeplatte, die ich gerade aus dem Schrank genommen hatte, aus den Händen gefallen.
„Kein Wort zu Bernd“, bittend sah ich Josef an, „die Aufregung könnte einen neuen Schlaganfall auslösen.“ Ich musste mich hinsetzen, so zitterten mir die Knie.
„Keine Angst, Bernd erfährt nichts, jedenfalls nicht von uns. Das ist auch der Grund, warum wir dir erst jetzt davon berichten. So was kann man einfach nicht am Telefon erzählen.“
„Was kann man nicht am Telefon erzählen?“, Markus war mit Michael auf dem Arm zu uns in die Küche getreten.
„Israel“, beantwortete Josef seine Frage.
„Das ist ja furchtbar“, ich nahm Markus in die Arme. Den Kleinen hatte er Josef gegeben, der sich mit ihm und dem Fläschchen zu Bernd auf die Terrasse gesellt hatte.
„Furchtbar ist überhaupt kein Ausdruck, es ist der reinste Horror. Am liebsten würde ich mit Michael türmen. Das bringt aber nichts. Wenn die wirklich den Mossad auf ihre Seite bringen, sind wir nirgends sicher.“
Mir wurde klar, dass das so nicht weitergehen konnte. Es musste doch eine Möglichkeit geben, dass Michaels andere Verwandtschaft den Jungen in Ruhe heranwachsen ließ.
Kapitel – 9 – Markus
Michael war nun fast ein halbes Jahr alt und begann zu krabbeln und sich an allem, was er erreichen konnte, hochzuziehen. Wir hatten begonnen seine Ernährung umzustellen, und so bekam er jetzt immer weniger Flaschennahrung. Im Küchenschrank stapelten sich die Gläschen mit Gemüsebrei.
Auch die ersten Zähnchen begannen zu wachsen, was sich durch Unruhe und häufigerem Weinen zeigte. Die Kinderärztin hatte zu einem weichen Beißring geraten, dem einzigen Mittel, das Zahnen etwas zu erleichtern.
Josef hatte sehr viel zu tun, ein Großauftrag ließ ihn frühmorgens das Haus verlassen und meistens kam er abends erst nach zwanzig Uhr zurück. Das wird sich zwar sehr gut auf seinem Kontoauszug machen, hieß aber auch, dass ich den ganzen Tag über mit Michael allein war.
Das war per se nicht tragisch, aber mir fehlte ab und zu jemand zum Ratschen. Gut, es gab die Müttergruppe, die sich jeden Mittwoch zum Frühstück traf, und zu deren Teilnahme man mich, als einzigen „Vater“ eingeladen hatte. Für diese Mädels, die sich alle von der Geburtsvorbereitung her kannten, gab es leider nur ein Thema, und das waren unsere Kinder.
Wenn ich mich mal über ein anderes Thema unterhalten wollte, musste ich versuchen meinen Vater telefonisch zu erreichen. Von ihm wusste ich, dass er zumindest mittwochs in der Früh zuhause war. Papa war schon immer politisch sehr interessiert und vertrat eine sehr liberale Ansicht, etwas, indem wir uns sehr nahestanden.
Nach dem Desaster mit der Boulevardzeitung hatte ich die Schnauze gestrichen voll, im Angestelltenverhältnis für ein Tagesblatt zu schreiben. Als Neuling bekam man sowieso erst einmal die langweiligsten Ressorts zugewiesen und mit Kind ging es ja eh nicht.
Tägliche Redaktionssitzungen, dazu ewig durch die Gegend zu Gondeln, um zu recherchieren, keine Chance.
Also hatte ich mich dazu entschlossen als freier Journalist Themen zu recherchieren, die mir interessant erschienen und diese Artikel dann großen, überregionalen Blättern anzubieten. Das erforderte zwar auch Recherchearbeit, aber die konnte ich von zuhause aus im Internet betreiben. Auch wenn es zu Beginn vielleicht nicht viel einbringen würde, so hatte ich etwas Sinnvolles zu tun und konnte mich gleichzeitig, ausgiebig der Erziehung unseres Sonnenscheins widmen.
Anfang des Monats hatte der jüngste Sohn, des seit 1972 regierenden, nepalesischen Königs Birendra, ihn und nahezu die gesamte Herrscher-familie ermordet. Birendras jüngerer Bruder, Gyanendra, wurde neuer König und daraufhin waren in Nepal Krawalle ausgebrochen.
Welche Rolle das nepalesische Königshaus im politischen Leben einnahm, und in welche korrupten Machenschaften einzelne Familienmitglieder verstrickt waren, war Gegenstand meiner aktuellen Recherche. Diese gestaltete sich jedoch sehr zeitaufwendig und schwierig, da im Internet so gut wie keine Informationen zu finden waren. Ich überlegte, ob ich stattessen nicht lieber einen Artikel über das indische Bahnwesen schreiben sollte, denn am letzten Freitag war in Kerala wieder einmal ein Zug entgleist, wobei 57 Menschen den Tod fanden. Die einhundertvierzig Jahre alte Brücke war in schlechtem Bauzustand. Dies hatte die Times of India vermeldet. Aufgrund des heftigen Monsuns sei ein Pfeiler unterspült worden, was wiederum dazu geführt hatte, dass das Gleis durch das Gewicht der Lokomotive brach, und die Lok zusammen mit den ersten vier Waggons in den Fluss Katalundi stürzte. Zehn Minuten nach dem Unglück habe heftiger Monsunregen eingesetzt, was die Rettungsarbeiten zusätzlich erschwerte.
Ich hatte mich gerade in einen Artikel über das indische Bahnwesen eingelesen, Michael lag mit seiner Rassel beschäftigt in seiner Wippe, als es an der Tür läutete. Wer nervte da schon wieder, Zeugen Jehovas oder ein Paketbote, der eine Sendung für die Nachbarschaft bei uns abgeben wollte.
Irgendwie musste es sich bei den Jungs herumgesprochen haben, dass bei uns meist jemand zuhause war und bereitwillig die Päckchen annahm.
Nichts dergleichen, weder Jehovas Betschwestern noch ein Paketbote, eine ältere Dame stand vor der Tür und hielt mir ihren Jugendamtsausweis unter die Nase, während sie sich als Frau Brandel vorstellte.
„Herr Mendel?“, fragte sie, und sah mich mit einem durchdringenden Blick an, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
„Ja, das bin ich“, beantwortete ich ihre Frage, machte jedoch keine Anstalten, die Dame hereinzubitten. Sie machte mir mit kurzen Worten klar, dass sie gekommen sei, um sich über das Wohlergehen, des mir in Obhut überlassenen Kindes zu informieren.
Mit blieb nichts anderes übrig, als zur Seite zu treten und sie hereinzulassen.
Als wir ins kombinierte Kinderzimmerbüro kamen, fing Michael an zu weinen. Ich nahm ihn auf dem Arm, wo er sich auch schnell wieder beruhigte.
»Er fremdelt«, sagte ich zu Frau Brandel, die sich mit hochgezogenen Augenbrauen in dem kleinen Raum umsah, um auch sogleich ihren Unmut zu äußern.
»Das Kind sollte ein eigenes Zimmer haben, das ist eigentlich Voraussetzung!« Da ich nicht wusste, was sie denn genau wollte, und um sie zu beruhigen, erklärte ich ihr, dass wir auf der Suche nach einer größeren Wohnung seien.
»Dann beeilen Sie sich, eine zu finden«, erhielt ich zur Antwort.
»Wir sind ja dabei, aber sie muss auch bezahlbar sein, und Sie kennen ja die Preise in München und Umgebung.« Sie ging auf diese Anmerkung nicht ein, verlangte stattdessen das Kinderuntersuchungsheft zu sehen, dass ich erst einmal suchen musste, da ich mich nicht erinnern konnte, wo ich es nach der letzten Untersuchung vergraben hatte. Und wieder ein Minuspunkt, ich las es in ihren Augen.
Dann wollte sie wissen, womit ich meinen Unterhalt bestritt und war wenig begeistert als sie erfuhr, dass ich gerade dabei war, mich als freischaffender Journalist zu etablieren.
»Verdient Frau Heiland, Ihre Lebensgefährtin denn genügend, um Sie und den Jungen ernähren zu können, falls aus Ihren Plänen nichts wird?« Noch deutlicher hätte sie nicht sagen können, dass sie mich für einen Looser hielt.
»Herr Heiland«, ich betonte das Herr, »kann uns ernähren, darüber brauchen Sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen, aber falls Sie Zweifel daran haben sollten, können wir Ihnen gerne eine Kopie seiner letzten Steuererklärung zukommen lassen«, beantwortete ich mit ruppigem Ton ihre unangebrachte Frage. Jetzt reichte es mir, von mir aus konnte sie denken was sie wollte. Was bildete die alte Schachtel sich ein?
»Herr Mendel, ich stelle diese Fragen nicht aus Neugierde. Hier geht es einzig um das Wohl des Kindes. Ich glaube nicht, dass es für einen Säugling zuträglich ist, in einem Männerhaushalt aufzuwachsen. Kinder brauchen Vater und Mutter. Gehen Sie davon aus, dass ich eine Empfehlung aussprechen werde, dass der Junge in staatliche Obhut kommt! Der schriftliche Bescheid geht Ihnen vom Jugendamt zu.«
Ich war wie vom Donner gerührt. Nachdem die Alte gegangen war und ich Michael gefüttert und für seinen Mittagsschlaf in sein Bettchen verfrachtet hatte, rief ich in der Praxis meiner Mutter an und bat Annegret, eine der am längsten dort arbeitenden Arzthelferinnen, meine Mutter möge mich schnellstmöglich zurückrufen.
»Was fehlt denn dem Kleinen«, wollte sie wissen, »vielleicht kann ich dir ja auch weiterhelfen, deine Mutter ist sehr beschäftigt.«
»Michael fehlt nichts, dem geht es gut«, mehr sagte ich nicht.
»OK, ich richte es deiner Mutter aus, es kann aber dauern, bis sie dich zurückruft.«
An Recherche war jetzt nicht zu denken, meine Gedanken kreisten. Eine Baustelle nach der anderen, wann würden wir endlich unsere Ruhe haben.
Kapitel 10 – Bernd
Markus hatte mich, unmittelbar nachdem die Dame vom Jugendamt gegangen war, völlig aufgelöst angerufen.
Es war zu erwarten gewesen, dass sich irgend-wann jemand vom Jugendamt blicken lassen würde, vor allem, nachdem Markus mittlerweile die Adoption beantragt hatte. Dass die sich ein Bild davon machen wollten, wie und wo der Junge aufwuchs, war mehr als korrekt.
Ich versuchte Markus zu beruhigen, aber panisch wie er war, gelang mir das nicht wirklich.
»Beruhige dich, nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird, das solltest du als Journalist doch am besten wissen«, sagte ich, als ich endlich mal zu Wort kam.
„Papa, ich weiß nicht mehr was ich machen soll, ich muss doch arbeiten, ich kann mich doch nicht den ganzen Tag nur um Michael kümmern. Der schläft immer noch recht viel und außerdem macht es mir Spaß, mal davon abgesehen, dass es hoffentlich auch etwas Geld in die Haushaltskasse spült.
Mit dem Geld war das bei den beiden so eine Sache. Josef hatte mir versichert, dass er genügend verdiene, um die kleine Familie ernähren zu können. Darin allein lag der Hund aber nicht begraben. Markus musste krankenversichert sein und die Kasse, beziehungsweise der Staat, setzt von uns Selbstständigen ein gewisses Einkommen voraus, nachdem sich der Mitgliedsbeitrag berechnet. Das war wieder mal so typisch Deutschland. Unsere Politiker haben wirklich keine Ahnung wie es im realen Leben zugeht. Sie haben ja ihre fetten Abgeordnetenbezüge, von den Nebeneinkünften, die sie mit Reden und allerlei Lobbyisten-Tätigkeiten verdienen, ganz zu schweigen.
Irene und ich unterstützten Markus mit einem monatlichen Scheck über Tausend Mark, wogegen er sich zunächst heftig gewehrt hatte und erst bereit gewesen war, ihn anzunehmen, als wir ihm klarmachen konnten, dass das keine Almosen seien, sondern unser Beitrag als Großeltern für Michaels optimale Erziehung.
Somit hatte er etwas Luft und war nicht gezwungen, des Geldes wegen auf Teufel komm raus einen Artikel zu schreiben, in der Hoffnung, dass dieser veröffentlicht werden würde.
Gerade schrieb er an einer Story über das indische Eisenbahnwesen. Diese wollte er einem bekannten Reisemagazin anbieten.
»Bleib‘ mal ganz ruhig, ich werde mit deiner Mutter reden, sobald sie aus der Praxis kommt. Sie kennt doch fast alle Mitarbeiter des Jugendamtes hier im Kreis, vielleicht lässt sich ja über diese Schiene ein gewisser Druck auf deine Frau Brandel ausüben.«
»Ach Papa, dein Wort in Gottes Ohr, hoffentlich behältst du Recht«, seufzte Markus.
Über einen Themenwechsel erreichte ich, dass sich mein Sohn dann doch etwas entspannte. Auf meine Frage, wie weit er denn mit seinem Artikel über die Indische Eisenbahn sei, erfuhr ich, dass allein die Recherche schon unwahrscheinlich spannend sei. »Ein ganzes Buch ließe sich darüberschreiben nicht nur ein Artikel«, tönte es aus dem Lautsprecher. »Wusstest du, dass Indien hinter den USA, China und Russland das viertgrößte Schienennetz hat? 1853 fuhr die erste Bahn von Bombay nach Thane, auf einer Spurweite von fünf Fuß, sechs Zoll, wofür man später die Bezeichnung indische Breitspur erfand. Diese Spurweite ist die am häufigsten verwendete auf dem indischen Subkontinent. Auch heute noch. Zu Beginn wurde die Eisenbahn von privaten Unternehmen gebaut. So hat die Great Indian Peninsula Railway das Netz von Bombay aus gebaut und betrieben. Die East Indian Railway baute von Kalkutta aus in Richtung Dehli, was 1864 erreicht wurde. Die South Indian Railway baute von Madras aus, und die Bombay, Baroda und Central Indian Railway erschloss von Bombay aus bis nach Baroda, dem heutigen Vadodara. Die North Western State Railway baute von Karatschi aus das Indus Tal hinauf und im Punjab, wovon heute der größte Teil in Pakistan liegt.«
Markus war gar nicht mehr zu stoppen, so faszinierte ihn dieses Thema.
»Vielleicht solltest du wirklich ein Buchprojekt daraus machen, so begeistert wie du bist«, sagte ich, als ich endlich die Gelegenheit bekam, auch mal etwas sagen zu können.
»Meinst du wirklich?«, da hatte ich wohl einen geheimen Wunsch entdeckt.
»So wie du dich da engagierst, wäre es doch schade, wenn du nur ein paar Mark für einen Artikel bekämst. Wenn ich nur daran denke, wie viele Eisenbahnfans es gibt. Da lässt sich sicher etwas daraus machen. Frag doch mal Josef, was er von der Idee hält.«
»Mach ich Papa. Jetzt muss ich aber Schluss machen, dein Enkel wird wach und gleich brüllt er los, wenn er merkt, dass er die Hosen voll und den Magen leer hat.«
Damit hatte Markus das Gespräch beendet, und ich konnte mich wieder dem zuwenden, wobei er mich mit seinem Anruf unterbrochen hatte. Ich suchte im Internet nach einem zum Verkauf stehenden Bauernhof in Oberhaching und Umgebung. Darum hatte Josef mich gebeten, da er diese Arbeit Markus nicht auch noch aufhalsen wollte. Markus wusste von Josefs Plänen nichts, es sollte eine Überraschung werden.
Als Irene nach Hause kam sprach ich kurz mit ihr das Problem mit der Dame vom Jugendamt an.
»Sie hat natürlich recht, wenn sie sagt, dass Michael ein eigenes Zimmer braucht«, sagte sie und nahm mir die Tasse Kaffee ab, die ich ihr aus der Maschine gelassen hatte.
»Lass uns das auf der Fahrt nach Kreuznach besprechen oder später im Quellenhof«, bat ich Irene, wohl wissend, dass es sich um ein längeres Gespräch handeln würde, ich aber gerade dabei war, meine Gedanken für die anstehende Therapiestunde zu ordnen.
Ich hatte ja lange meine Zweifel bezüglich einer Psychotherapie gehabt, aber ich musste zugeben, dass sie mir gut tat, wenngleich ich oft an diesen Stunden zu knabbern hatte. Zum einen war ich, wie alle anderen Menschen auch, Produkt meiner Erziehung, zum anderen verfügte ich wohl über ein mehr als gesundes Maß an Egoismus. Diese Mischung, gepaart mit dem Verlust, den ich durch Katharinas Tod erlitten hatte, reichten schon aus, um auch einen kerngesunden Gaul aus der Bahn zu werfen. Dazu aber auch noch der Verlust meiner Praxis, bedingt durch den Schlaganfall, da kam doch einiges zusammen.
Die Therapiestunden verliefen nach einem nicht vorhersehbaren Muster. Ich legte mir immer wieder Themen zurecht, über die ich reden wollte und musste am Ende der Stunde überrascht feststellen, dass ich über etwas ganz anderes gesprochen hatte.
Das sei völlig normal, hatte mir der Therapeut auf meine Frage geantwortet. Dies sei ja Sinn und Zweck einer Psychotherapie, dass die Seele rede und nicht der Verstand.
Auch an diesem Mittwochnachmittag hatte sich mein Monolog verselbständigt. Wieder einmal klagte ich darüber, dass Katharina nicht Wort gehalten hatte, indem sie meine Praxis nicht übernehmen wollte.
»Sind Sie absolut davon überzeugt, dass Ihre Tochter die Praxis nicht übernehmen wollte?«, hatte mich mein Therapeut zwischendrin gefragt. »Was macht Sie da so sicher?«, bohrte er nach. »Denken Sie nochmal darüber nach, wir sprechen dann nächste Woche weiter, die Stunde ist schon wieder zu Ende.«
Irene wartete im Quellenhof. Ich musste mich aber erst einmal sammeln, bevor wir uns dort trafen.
Langsam schlenderte ich die Kaiser-Wilhelm-Straße entlang in Richtung Kurhaus, bevor ich dann auf der gegenüberliegenden Seite wieder zurück lief, um die Nahe über den Steg beim Hotel Quellenhof zu überqueren.
Irene hatte sich für „Zartes, gegrilltes Hähnchen-brustfilet in Mandeln gebraten, serviert auf Curry-sauce mit leckerem Butterreis“ entschieden, während meine Wahl auf »Original Idar-Obersteiner-Schaukelbraten mit Meerrettich und Kräuterbutter, sowie herzhaften Bratkartoffeln» fiel.
Dazu orderte jeder von uns ein Glas Bad Kreuznacher Narrenkappe, Riesling Spätlese, trocken.
Während wir uns an unseren Speisen labten, überdachte Irene laut die Möglichkeiten, die sich ihr boten, um über diverse Jugendämter Einfluss auf das für Michael zuständige Jugendamt zu nehmen,
»Es wäre vielleicht gar nicht schlecht, wenn Markus und Josef zusammen einen Brief an das Jugendamt schreiben und ihnen ihr Erziehungskonzept vorstellen würden, was meinst du?«, Irene tupfte sich den Mund mit ihrer Serviette ab, um sich einen Schluck dieses ausgezeichneten Rebensaftes munden zu lassen.
»Ich weiß nicht so recht, dazu müsste man wissen, wer der oder die Vorgesetzte dieser Dame ist. So lange wir das nicht wissen, halte ich es für keine so gute Idee«, beantwortete ich ihre Frage.
»Ich kenne jemanden im Mainzer Jugendamt, den könnte ich mal bitten, herauszubekommen wie das in München läuft«, sagte Irene, nachdem sie den Rest ihres Essens verspeist hatte.
Da Irene, genau wie Markus, von Josefs Plänen noch nichts wusste, berichtete ich ihr, womit ich mich in meiner freien Zeit beschäftige.
»Josef spreizt sich ja gewaltig ein, wie will er das denn finanzieren, übernimmt er sich da nicht?«, Irene blickte mich fragend an.
»Vielleicht können wir ihnen ja etwas unter die Arme greifen«, gab ich zu Bedenken.
»Und wo willst du das Geld hernehmen? Willst du etwa unseren Notgroschen antasten?«, Irenes Blick ließ keinen Zweifel daran, dass sie das für keine gute Idee hielt.
»Ich dachte eher daran, Markus das Haus mit der Praxis zu überschreiben. Dann hat er zum einen die Mieteinnahmen von den beiden Praxen und der Dachgeschosswohnung, und zum anderen können sie das Haus der Bank als Sicherheit anbieten. Bevor du jetzt etwas dazu sagst, überschlafe es erst einmal.« Damit war Irene einverstanden und wir beide hatten noch einen angenehmen Abend.
Kapitel 11 – Josef
Die Tante vom Jugendamt hatte uns gerade noch gefehlt. Ihre Drohung war das I-Tüpfelchen, was noch gefehlt hatte, um Markus an den Rand eines Nervenzusammenbruchs zu treiben.
Mit Mühe und Not hatte ich verhindern können, dass er total kopflos alles was Michael brauchte in eine Reisetasche stopfte und mit ihm verschwand.
»Hase das bringt doch nichts. Wo willst du denn hin?«, hatte ich ihn gefragt, als ich ihn in unserem Kinderzimmerbüro fand.
»Ich lass mir doch nicht meinen Sohn wegnehmen«, tobte er mit gleichermaßen vor Wut und von Angst verzerrtem Gesicht. Es dauerte sehr lange, bis ich ihn soweit beruhigt hatte, und er einsah, dass Flucht der falsche Weg war.
Später, als er Michael badete, rief ich Bernd an und bat ihn, mir bei der Suche, nach einem Bauernhof in der Nähe, behilflich zu sein. Da hier in der Gegend vorwiegend Milchwirtschaft betrieben wird, sollte es eigentlich möglich sein, einen Hof zu finden, wenn nicht außerhalb, dann in einer der umliegenden Gemeinden.
Nahezu wöchentlich war in der Zeitung ein Artikel, über Landwirte zu finden, die ihren Betrieb mangels Nachfolger oder Rentabilität aufgaben.
Dass das Ganze für uns beide nicht billig werden würde, war mir klar, aber mit den Mieteinnahmen für das Haus und der Werkstatt, einigen lukrativen Aufträgen mehr und gegebenenfalls mit dem Verzicht auf das Eine oder andere, sollte es zu bewerkstelligen sein.
Ich hatte auch in Erwägung gezogen, das Haus zu verkaufen, aber ein Bekannter, mit dem ich darüber gesprochen hatte, meinte, dies sei nicht so einfach. Aufgrund der Demenz war mein Vater nicht mehr geschäftsfähig, das Haus stand aber noch auf seinem Namen. An eine rechtzeitige Überschreibung hatte keiner von uns beiden gedacht. Bei dem ganzen Trubel im letzten halben Jahr war diese Sache einfach untergegangen.
Ein Kredit von der Bank war auch noch eine weitere Option, wenngleich nicht gerade meine erste Wahl. Damals, als ich das Geschäft von jetzt auf gleich übernehmen musste, hatte ich bereits einen kleinen Liquiditätsengpass, und mein Banker war alles andere als entgegenkommend gewesen. Wollte man von der Bank Geld, dann musste man die doppelte Summe in irgendeiner Form als Sicherheit aufbringen, so schien es mir.
Bernd meldete sich. Er hatte möglicherweise zwei geeignete Objekte gefunden, die wir uns, nächste Woche, gemeinsam ansehen wollten.
Er würde morgen kommen mit Irene für eine Woche zu uns kommen. Irene hatte ihre Praxis für zwei Wochen geschlossen, und Bernd wurde mittlerweile immer seltener von seinem indischen Nachfolger gebraucht. Markus hatte für seine Eltern im gleichen Hotel, in dem wir auch schon die Israelis untergebracht hatten, ein Zimmer gebucht. Deren nächster Besuch sollte im September stattfinden, die beiden wollten unbedingt mal das Oktoberfest besuchen. Mit etwas Glück bräuchten wir kein Hotelzimmer zu buchen, weil wir sie bei uns auf dem Bauernhof unterbringen könnten.
Ich war auf dem Rückweg von meiner Großbaustelle, im Radio begannen gerade die Zwanziguhr-Nachrichten. Der Sprecher berichtete von heftigen Straßenschlachten in Genua, die sich Demonstranten mit der Polizei geliefert hatten. Das war mal wieder so ein typisches G8-Gipfeltreffen dachte ich mir. Warum trafen die sich nicht auf einem Flugzeugträger oder mieteten sich ein Kreuzfahrtschiff? Wäre wahrscheinlich preiswerter und für die Bürger stressfreier.
» … wurde der dreiundzwanzigjährige Carlo Giuliani von einem Carabinieri erschossen«, hörte ich gerade noch. Und jetzt auch noch ein Toter. Hörte so etwas denn nie auf? Aber ich wusste nicht, was dem vorausgegangen war. Das erfuhr ich dann später, als ich mir zuhause die Nachrichten um viertel vor Zehn im ZDF ansah. Die Demonstranten hatten einen Polizeiwagen mit Feuerlöschern und Holzbalken attackiert. Dann würde das als Notwehr gewertet werden und damit war der Fall abgeschlossen.
Unseren Sonnenschein sah ich in diesen Wochen selten. Morgens wenn ich aus dem Haus ging, lag er meist noch in seinem Bettchen und abends, wenn ich heimkam, schon wieder in den Federn. Blieben also nur die Sonntage, wo ich mich um ihn kümmern konnte, denn aufgrund des Zeitdrucks musste ich auch samstags auf die Baustelle.
Mehr solcher Großaufträge und es würde sich wahrscheinlich lohnen drei Gesellen einzustellen, ging es mir durch den Kopf, während ich im Stau mal wieder einen Meter vorrollte, dankbar dafür, dass ich den Lieferwagen mit Automatikgetriebe geleast hatte.
Kein Luxus bei den ständigen Staus auf dem Mittleren Ring und der A99 sowie der A8.
Andererseits hieße das aber auch, ständig an Ausschreibungen teilnehmen zu müssen, also jede Menge Büroarbeit, die ich entweder selbst machen müsste oder eine qualifizierte Kraft bräuchte. Also wieder Mehrkosten. Wie ich mich drehte und wendete, es endete immer wieder im gleichen Hamsterrad.
Vielleicht könnte Markus ja einen Teil der Büroarbeit übernehmen, zum Beispiel die Lohnabrechnungen machen, die Daten von den Arbeitsblättern in die neue Datenbank einpflegen, Abschlagsrechnungen schreiben. Auf Halbtagsbasis. Dann wäre er sozialversichert und hätte zudem Zeit, sich um unseren Kleinen zu kümmern. Darüber sollte ich mal mit ihm reden und hören, was er davon hielt.
Zurzeit war er ja in sein Indien Projekt vertieft. Er erzählte mir oft abends beim Essen, in welche Themen er sich gerade einlas, und über welche exotische Eisenbahngesellschaften und deren Transporte er gerade recherchierte.
Der Scheck, den er monatlich von seinen Eltern bekam, beidem sowohl seine Mutter als auch Bernd und ich uns den Mund fusselig redeten, bis er endlich gewillt war, diesen anzunehmen, erleichterte die Situation mit seiner freiberuflichen Tätigkeit erheblich. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie die monatliche Zuwendung streichen würden, wenn er bei mir halbtags beschäftigt war.
Ich sollte vielleicht mal darüber mit Irene unter vier Augen reden, bevor ich meinem Schatz mit diesem unmoralischen Angebot unter die Augen trat. Sie hatte nicht unerheblichen Einfluss auf Markus, auch wenn er das vehement verneinen würde, sollte man ihm dies sagen.
Es ging auf halb neun zu, als ich mich an der Ausfahrt Unterhaching dazu entschloss, von der A99 abzufahren und die letzten Kilometer durch das Kaff zu zockeln. Auf diese Idee war anderen Verkehrsteilnehmer auch gekommen, denn auch hier ging es nur in gemäßigtem Tempo voran.
Kapitel 12 – Bernd
Josefs Werkstatt beeindruckte mich. Sie war größer als ich es erwartet hatte und picobello aufgeräumt. Ein halb auseinander gebauter Schrank, wohl aus dem Biedermeier stammend, so genau kenne ich mich damit nicht aus, erweckte mein Interesse. Das war Handwerkskunst, keine Frage, nicht diese sauschweren, mit dünnem Fournier überzogenen Sperrholzteile, wie man sie von dem großen schwedischen Möbelhaus mit den vier Buchstaben kennt, die beim zweiten Mal Umzug reif für den Wertstoffhof sind.
»… und da habe ich eben noch die Ausbildung zum Tischler gemacht«, beendete Josef den Satz, wobei er mich stolz anblickte. Ja, stolz durfte er mit Recht sein. Was er in jungen Jahren schon alles geleistet hatte, Chapeau.
»Bernd, ich danke dir, dass du dir die Mühe gemacht hast, dich nach einem geeigneten Bauernhof für uns umzusehen. Ich selbst hätte dafür keine Zeit gehabt und Markus wollte ich nicht darum bitten, denn dann wäre es ja keine Überraschung mehr für ihn«, wandte Josef sich an mich.
»Das habe ich sehr gerne gemacht, ich tue es ja schließlich nicht nur für euch, sondern auch für unseren Enkel. Außerdem können wir euch, wenn ihr mehr Platz habt, öfter mal besuchen, und müssen nicht jedes Mal im Hotel übernachten«, antwortete ich meinem Schwiegersohn in spe.
»Morgen früh fahren wir zwei los und sehen uns mal die vier Höfe an, da Markus mit dem Kleinen und Irene nach München zum Einkaufen fahren will. Michael braucht Kleidung für den Winter. Markus ist froh, dass ihr da seid, dann kann er Irene die Auswahl der Klamotten aufs Auge drücken. Es ist ihm ja wirklich nichts zu viel und er kümmert sich rührend um Michael, aber durch Bekleidungsgeschäfte gehen, gehört nicht zu seinen Stärken. Er geht nicht einmal gerne für sich selbst Textilien einkaufen. Wenn ich nicht vehement mein Veto eingelegt hätte, dann würde er die gesamte Kleidung beim Versandhändler in Hamburg bestellen«, klagte Josef. Das war typisch für Markus, Geduld brachte er nur widerwillig auf. Es musste immer alles schnell gehen, er war ständig auf dem Sprung. Irgendwie passte es ja zu seinem Beruf, Journalisten müssen neugierig und schnell sein. Die Schlagzeile von eben, ist in der nächsten Sekunde bereits Vergangenheit.
»Josef, Papa, kommt ihr«, hörten wir meinen Junior rufen,
»das Abendessen wird sonst kalt.« Markus löschte das Licht und verschloss die Tür zu seiner Werkstatt. Dann gingen wir über die Außentreppe in ihre Wohnung, wo Markus den Tisch in der Essecke rustikal eingedeckt hatte. Irene saß auf dem Sofa und spielte mit Michael, der am Nachmittag noch gefremdelt hatte. Nachdem sie Michael in seinen Laufstall gesetzt und ihm seine Rassel in die Hand gedrückt hatte, setzte sie sich, mit Michaels Gebrüll im Hintergrund, zu uns an den Tisch. Sie wollte gerade wieder aufstehen, als Markus ihr zu verstehen gab, dass sich das Gebrüll gleich legen würde.
»Bist du nicht müde und erschöpft von der langen Fahrt«, fragte ich Irene, Wenn wir auch ohne Stau durchgekommen waren, so zog sich doch die Fahrt bis München in die Länge, vor allem wegen der vielen Baustellen. Irene hatte es vorgezogen über den Spessart zu fahren, da sowohl auf der Karlsruher- als auch auf der Stuttgarter Autobahn Staus gemeldet wurden, kurz nachdem wir losgefahren waren. Jetzt im August waren natürlich wahnsinnig viele Urlauber unterwegs, und mehrfach musste Irene auf achtzig runtergehen, wenn wieder mal ein Niederländer sein Gespann auf die Überholspur setzte, um die vorausfahrenden Freunde ebenfalls ausscheren zu lassen. Man konnte meinen, ganz Holland sei auf Reisen. Und dann diese LKW-Kolonnen, Fahrzeug an Fahrzeug gereiht. Die Jungs zogen, vor allem an den Steigungen, zum Überholen heraus, wohl mit der Vermutung, mehr PS unter der Haube zu haben als der Vordermann. Oftmals ging die Rechnung nicht auf, und es dauerte ewig, bis der Überholende sich wieder zurückfallen ließ, in der Hoffnung, dass der bereits an der Stoßstange klebende Laster sein Tempo drosseln würde, damit er wieder auf die rechte Spur wechseln konnte.
»Es geht, verspannt bin ich, bin es halt nicht gewohnt, so lange Strecken zu fahren. Zum Glück haben wir uns die ausgedehnte Pause im Altmühltal gegönnt. Aber ich werde wohl früh zu Bett gehen«, beantwortete Irene meine Frage.
Während des Abendessens, Markus hatte einen Hackfleischauflauf mit Blumenkohl und Kartoffeln gemacht, kam das Gespräch auf die Dame vom Jugendamt, die inzwischen ein zweites Mal, unangemeldet, bei uns aufgekreuzt war. Irene hatte Kontakt zu einem Mitarbeiter des Mainzer Jugendamt aufgenommen, um vorzufühlen, ob es Sinn machen würde, den Leiter des Münchner Jugendamtes direkt zu kontaktieren. Leider bekam sie keine positive Antwort. Im Zuständigkeitsbereich des Münchner Amtes hatte es innerhalb von zwei Monaten drei Fälle von sexuellen Übergriffen gegeben, bei denen die zuständigen Sachbearbeiter das Unglück hätten verhindern können, wenn sie ihre Augen aufgemacht hätten. Das hatte zur Folge, dass die Leiterin ihren Posten räumen musste. Der neue Leiter war noch recht jung, wollte Karriere machen und ließ buchstabengetreu die Bestimmungen umsetzten. Es war also höchste Eisenbahn, dass Josef und Markus wenigstens die räumlichen Anforderungen bieten konnten. Darüber, dass ein schwules Paar die Erziehung unseres Enkels in die Hand genommen hatte, ließ sich vor Gericht streiten. Da standen die Chancen für die Jungs nicht schlecht. Ein fähiger Anwalt könnte da viel erreichen. In Markus erweitertem Freundeskreis waren, meines Wissens, mindestens zwei Anwälte.
Als Irene mit Markus und Michael, am nächsten Morgen, mit der S-Bahn unterwegs nach München waren, machten Josef und ich uns auf den Weg, um uns, die in Frage kommenden Objekte schon mal von weitem anzusehen. Es war ein warmer Tag, die Sonne brannte vom Himmel und ließ alles in einem freundlichen Licht erscheinen.
Der erste Hof, in der Nähe von Ödenpullach gelegen, war zum einen viel zu groß und zum anderen zu weit abgelegen. Dieser Hof hatte keine Chance, um in die engere Wahl zu kommen. Michael bräuchte Spielkameraden, wenn er etwas älter wäre, und bei diesem Objekt hätten Markus und Josef ihn immer irgendwo hinbringen müssen, oder dürften sogar die Spielkameraden abholen.
Auch bei dem zweiten Objekt, einem an der Straße von Oberbiberg nach Jettenhausen gelegenen Aussiedlerhof, war es die Größe und die einsame Lage, die Josef nicht gefielen. Somit blieben nur noch zwei Bauernhäuser übrig.
Der Hof in Deining erwies sich als renovierungsbedürftig, war aber gut gelegen, an der Hauptstraße in Richtung Egling beziehungsweise Ergertshausen. Die Haltestelle des Schulbusses war keine einhundert Meter entfernt. Deining schien auch groß genug zu sein, um zumindest einen Kindergarten und eine Grundschule zu haben.
»Was meinst du, sollen wir mal anklopfen und fragen, ob wir uns das Haus mal ansehen dürfen?«, Josef sah mich mit fragendem Blick an.
»Fragen kostet nichts, mehr wie nein sagen können die Eigentümer nicht«, gab ich zu bedenken. Josef wendete den Wagen und stellte ihn einige Meter vom Haus entfernt so ab, dass er den Verkehr nicht behinderte. Danach liefen wir die wenigen Meter wieder zurück und besahen uns das Haus und die dazugehörige Wiese, auf der einige Kühe unter Bäumen Schatten gesucht hatten, näher an. Das Haus hatte gut und gerne schon den ersten Weltkrieg miterlebt und es schienen in den letzten zwanzig, wenn nicht gar dreißig Jahren, auch keinerlei Instandhaltungsarbeiten durchgeführt worden zu sein, zumindest was den äußeren Zustand anbelangte.
Ein etwa fünfundvierzigjähriger Mann erschien an der Tür, nachdem wir am Hoftor geläutet hatten.
»Sie wollen sich sicher das Haus ansehen«, begrüßte er uns, »nur herein in die gute Stube«. Sein oberbayrischer Dialekt war für mich kaum zu verstehen, und als Josef dann ebenfalls im Alpenslang zu reden anfing, gab ich es auf, dem Gespräch folgen zu wollen.
Gute zwei Stunden verbrachten wir damit, uns das Haus und die Stallungen anzusehen, wobei Josef sich immer wieder Notizen machte und sogar auf den Dachboden stieg, um sich vom Zustand des Gebälkes ein Bild zu machen.
Nachdem wir uns verabschiedet hatten, brauchten wir nicht auf die Uhr zu sehen, um festzustellen, dass es schon Mittag war. Unsere Mägen knurrten derart laut, dass wir beide lachen mussten.
Josef hatte den Wagen unmittelbar vor einer Gaststätte mit einem einladenden Garten geparkt. Was lag also näher, als sich dort zum Essen niederzulassen. Der Speisekarte nach zu urteilen, stammte das Wirtspaar aus Jugoslawien. Die Vielfältigkeit der exotischen Gerichte stand im krassen Gegensatz zum Schweinsbraten mit Knödeln und der Schweinshaxe, die als einzige bayrische Gerichte aufgelistet waren.
Josef entschied sich für das serbische Reisfleisch, ich wählte den Lustigen Bosniak, auf der Karte als Veseli Bosanac vermerkt, ein mit Schinken, Schafskäse und Kräutern gefülltes Rumpsteak, zu dem Kroketten und ein gemischter Salat gereicht wurden. Dazu ließen wir uns ein Helles munden, was in Bayern ja als Grundnahrungsmittel eingestuft wird. Das Essen würde aber etwas dauern, sagte uns die junge Frau in gebrochenem Deutsch, denn ihr Mann würde alles frisch zubereiten.
»Kein Problem, wir haben Zeit«, antwortete Josef ihr, woraufhin sie uns ein Lächeln schenkte.
Während wir auf das Essen warteten, fragte ich Josef, was er von dem Objekt hielt.
»Es gibt einiges zu tun, aber wenn der Preis stimmt, dann können wir vieles von Fachbetrieben richten lassen. Das Haus wurde 1906 errichtet und bis auf die Heizung, die erst vor zwei Jahren erneuert wurde, in den sechziger Jahren zuletzt von Grund auf renoviert«, beantwortete Josef meine Frage, bevor er sein Glas hob und mir zuprostete.
»Den vierten Hof schauen wir uns aber schon noch an, oder?«, fragte ich Josef, da es mir schien, als habe er sich schon für dieses Haus hier entschieden.
»Auf alle Fälle«, stimmte er sofort zu. Just in dem Moment kam die Wirtin mit unserem Essen, was nicht nur verführerisch duftete, sondern auch so schmeckte.
Nachdem wir uns gestärkt hatten, fuhren wir nach Miesbach, um uns den letzten Hof anzusehen. Dieser stand, aufgrund eines schweren Unfalls, der den Bauer seitdem an den Rollstuhl fesselte, zum Verkauf. Die Frau könne den Hof nicht allein bewirtschaften, erzählte uns das Ehepaar, und mit dem Erlös aus dem Hausverkauf sowie dem Schmerzensgeld, das der Bauer von der Versicherung des Schädigers erwartete, würden sie leben können, ohne sich groß einschränken zu müssen. Zudem würde ihr Mann derzeit eine Weiterbildung machen und sie beide gingen davon aus, dass er auch eine Anstellung finden würde, bemerkte die Frau. Vor zehn Jahren erst, hatten sie dieses Anwesen am Rand von Miesbach gebaut, so dass sowohl das Haus als auch die Scheune und die Stallungen in sehr gutem Zustand waren. Das schlug sich allerdings auch im Preis nieder.
Wir bedankten uns, und fuhren nach Oberhaching zurück, davon ausgehend, dass auch die anderen inzwischen aus München zurück sein würden.
Weit gefehlt, von Irene, Markus und Michael keine Spur. Stattdessen blinkte der Anrufbeantworter, und nachdem Josef ihn abgehört hatte, wussten wir, dass sie aufgrund einer S-Bahn Störung in München festsaßen. Wir rätselten noch, wie wir in Erfahrung bringen könnten, wo sie in München waren, als das Telefon erneuet läutete und Markus am anderen Ende der Strippe war. Ob Josef sie abholen könne, die Störung würde sich wohl noch um einige Stunden hinausziehen, wollte er wissen.
»Ich gabele sie am Mariahilfplatz auf«, informierte Josef mich, »dorthin können sie mit der Tram fahren, und ich muss nicht samstags und um diese Uhrzeit direkt in die Innenstadt. Eine dreiviertel Stunde bis Stunde wird’s aber dauern, bis wir wieder hier sind.« Das war für mich kein Problem, ich genoss es, mal ein paar Minuten allein zu sein. Ich nutzte die Zeit, um mir im Fernsehen die Nachrichten anzusehen. Einer Maschine der Air Transat war auf dem Flug von Toronto nach Lissabon, über dem Atlantik, der Sprit ausgegangen, und den Piloten war es in letzter Minute gelungen, den Airbus A330 auf dem Militärflughafen Lajas, auf den Azoren, notzulanden. Offenbar hatte es ein Leck in einem der Treibstofftanks gegeben, und die Piloten hatten dies zu spät bemerkt. Es sei mit neunzehn Minuten der längste Gleitflug einer Passagiermaschine gewesen, verlas der Nachrichtensprecher. Da wollte ich auch nicht an Bord gewesen sein, ging es mir durch den Kopf.
Eigentlich hatten wir vorgehabt, am Abend in die Kugler Alm, einem nahegelegenen, immer gut frequentierten Biergarten zu gehen. Das Vorhaben gaben wir auf. Michael war quengelig, ihm fehlte sein Mittagsschlaf. Markus war genervt, schimpfte auf die S-Bahn, vor allem das marode Stellwerk am Ostbahnhof, das wohl für den stundenlangen Ausfall verantwortlich war. Und Irene sah man die Strapazen ebenfalls an. Gestern die lange Fahrt und heute der Trip in die Großstadt.
Als wir an diesem Abend in unserem Hotelbett lagen, fragte mich Irene, wie denn unser Tag gelaufen wäre, ob eines der vier Objekte in die engere Wahl gekommen sei. Ich erzählte ihr in wenigen Worten von den beiden Höfen, die theoretisch in Frage kämen, und dass einer der beiden stark renovierungsbedürftig sei.
»Und welches der beiden Häuser hat dir besser gefallen, welches würdest du nehmen?«, wollte sie wissen.
»Mein Kopf rät mir zu dem Hof in Miesbach, aber wenn es nach meinem Herzen ging, dann würde ich mich wohl für das Anwesen in Deining entscheiden. Das Haus hat einfach Charme. Nur gut, dass ich das nicht entscheiden muss. Ich bin gespannt, was Markus sagt, wenn wir uns morgen alle zusammen die beiden Häuser ansehen«, beantwortete ich Irenes Frage.
»Ohne dass ich eines der Häuser gesehen habe, glaube ich, dass Markus sich wohl für das Haus in Miesbach entscheiden wird«, sagte Irene.
»Oder für keines der beiden Objekte. Ob Markus von Oberhaching weg will wissen wir ja nicht. So wie ich ihn vorhin beim Essen verstanden habe, ist er hier ja super in die Mutter-Kind-Gruppe integriert. In Miesbach müsste er wieder von vorne anfangen, und dort wären sie auch wieder die beiden Exoten mit dem Kind«, gab ich zu bedenken.
»Es hätte aber auch einen nicht zu unterschätzenden Vorteil, denn das Münchner Jugendamt wäre für Michael nicht mehr zuständig«, murmelte Irene schläfrig.
Als ich ihr den Gutenachtkuss gab, war sie schon fast im Reich der Träume. Wenig später war auch ich eingeschlafen.
Kapitel 13 – Markus
Ich konnte mich kaum auf das Kapitel konzentrieren, dass ich in der Mache hatte. Soeben hatte sich der Radiosprecher in die laufende Musik eingeblendet, mit der Nachricht, dass es in New York zu zwei Anschlägen auf das World Trade Center gekommen sei. An Weiterarbeiten war jetzt nicht mehr zu denken. Ich speicherte mein Dokument, machte das Radio aus und schaltete den Fernseher ein.
Wie in einer Dauerschleife zeigten nahezu alle Sender immer und immer wieder, wie die beiden Flugzeuge in die zwei Türme krachten.
Entsetzen, Fassungslosigkeit hatte von mir Besitz ergriffen, ich konnte nicht glauben, was sich da vor meinen Augen abspielte. Menschen rannten um ihr Leben, es war ein Höllenspektakel, New York ging im Lärm der Sirenen unter.
Just in dem Moment, als auf der Mattscheibe der erste Turm zusammenkrachte, läutete es an der Haustür. Ich erwartete niemanden. Die Dame, die vor der Tür stand, erwartete ich am allerwenigsten, Frau Brandel vom Jugendamt.
»Sie schon wieder?«, sagte ich anstelle einer freundlichen Begrüßung und ließ dieses nervige Weib eintreten.
»Ihnen auch einen schönen guten Tag«, ihre Stimme war so eisig, dass einem das Blut in den Adern gefrieren konnte. Aus dem Wohnzimmer drangen die Sirenen und aufgeregte Stimmen diverser Reporter zu uns. Frau Brandel verzog keine Miene, als sie, beim Betreten des Wohnzimmers, die schrecklichen Bilder im Fernseher sah. Ohne jegliche Empathie bat sie mich, den Fernseher auszuschalten.
»Der Fernseher bleibt an. Ich bin Journalist. Schon vergessen?«, beschied ich ihr und forderte sie dann auf, zu sagen, was sie zu sagen hätte und dann zu verschwinden. Nicht gerade sehr diplomatisch, zugegebenermaßen, aber an so einem Tag wohl verständlich.
»Das wird Folgen haben«, fauchte sie, knallte die Kopie eines Schreibens auf den Tisch und machte auf dem Absatz kehrt. Zur Tür brauchte ich sie nicht zu begleiten, sie war schneller wieder draußen, als sie hereingekommen war.
Geräusche aus dem kombinierten Büro-Kinderzimmer riefen mir in Erinnerung, dass der junge Mann gleich nach einer Mahlzeit verlangen würde. Aber vorher musste er frisch gewindelt werden. Wie ich Michael kannte, hatte er wieder ordentlich was in der Hose. Und so war es auch. Nachdem ich ihn gesäubert hatte, bekam er einen Obst Brei. Das würde ihm als Zwischenmahlzeit bis zum Abend reichen. Michael, der es nicht gewohnt war, dass beim Füttern der Fernseher lief, drehte seinen Kopf immer wieder in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Ich hatte den Ton leiser gedreht, aber nur so viel, dass ich den Moderator noch verstehen konnte.
Im Lauf des Nachmittags drangen immer mehr Horrormeldungen aus den Staaten zu uns. Noch mehr Flugzeuge waren entführt worden. Eine Maschine war ins Pentagon gekracht, eine weitere sollte wohl ins Weiße Haus oder das Capitol, vielleicht auch in den Landsitz des Präsidenten, Camp David, gesteuert werden, stürzte aber in der Nähe von Shanksville, östlich von Pittsburgh ab.
Beim ersten Crash in den Nordturm des WTC war man zunächst von einem Unfall ausgegangen und hatte die Angestellten, die im Südturm arbeiteten, gebeten, Ruhe zu bewahren, und an ihren Arbeitsplätzen zu bleiben. Erst als die Boeing 767 der United Airlines, die ebenfalls in Bosten gestartet war, in den Südturm krachte, wurde den Verantwortlichen klar, dass es sich um einen Anschlag handelte, und erst jetzt hatten sie die Evakuierung des World Trade Centers angeordnet.
Ich rief meinen Vater an, der bereits nach dem ersten Läuten den Hörer abnahm.
»Das wird Folgen haben«, waren seine ersten Worte, und dann erläuterte er mir ausführlich, wie er die Sache sah. Dass Präsident Bush sich das niemals gefallen lassen würde, allein schon der Schmach wegen, die Amerika erlitten hatte. Osama bin Laden machte man wenige Tage später für den Anschlag verantwortlich.
Mit meinem Vater sprach ich auch nochmals über das Vorhaben meiner Eltern, mir das Haus in Gau-Algesheim, in dem sich die zwei Arztpraxen und eine Wohnung befand, zu überschreiben. Ich hatte bis zu dem Augenblick, indem meine Eltern uns den Vorschlag mit der Überschreibung machten, nicht einmal gewusst, dass das Haus ihnen gehörte. Katharina und ich waren ja in dem Haus, in dem meine Eltern immer noch wohnen, in der Nachbargemeinde aufgewachsen. Unterhalb des Jakobsberges, mit unverbaubarer Sicht ins Rheintal, an einer steilen Straße gelegen. Mich hatte als Kind immer der Anblick der Züge fasziniert, die von Mainz kommend, hinter Gau-Algesheim in einer langgezogenen Rechtskurve, Richtung Bingen und durchs mittlere Rheintal, was mittlerweile Weltkulturerbe ist, weiter über Köln bis nach den Niederlanden brausten.
Ich fand es nach wie vor nicht richtig, dass meine Eltern mir dieses Objekt in Gau-Algesheim überschreiben wollten. Die Mieteinnahmen waren doch sicher als Rentenersatz gedacht, nun wollten sie darauf verzichten. Wir hatten bei ihrem Besuch lange darüber diskutiert. Auch Josef war alles andere als begeistert vom Vorschlag meiner Eltern, die sich aber nicht davon abbringen lassen wollten.
Es sei alles kalkuliert und auch mit ihrem Steuerberater besprochen, wurde uns beschieden.
Josef und ich hatten, nachdem meine Eltern wieder abgereist waren, uns noch einmal die beiden in Frage kommenden Häuser angesehen und uns dann für das Haus in Deining entschieden. Das Haus hatte einen ganz eigenen Charme. Mit seinen grünen, halbverfallenen Fensterläden und der rötlich gefärbten Lüftel-Malerei strahlte es eine morbide Eleganz aus. Wir würden zwar fast ein Drittel des Kaufpreises zusätzlich für die Renovierung aufbringen müssen, aber das schreckte uns nicht davon ab, die Sache anzugehen.
Josef hatte meine Mutter eingespannt, damit sie mir seinen Vorschlag, halbtags für ihn zu arbeiten, schmackhaft machte.
Beim Abendessen am gleichen Tag, an dem er mir dieses Haus gezeigt hatte, machte er mir seinen Vorschlag und war überrascht, als ich ihn ohne langes Überlegen annahm.
Später, als wir eng aneinander gekuschelt in unserem Bett lagen, sagte er mir, er hätte Angst davor gehabt, mir, dem Journalisten und angehenden Buchautoren, dieses Stellenangebot zu machen, da ich für die Tätigkeit weit überqualifiziert sei.
»Besser über- als unterqualifiziert«, sagte ich, und fügte hinzu: »dann profitieren wir doch alle davon. Du kannst einigen Leuten Arbeit beschaffen und damit mehr Aufträge ausführen, was im Umkehrschluss dazu führen wird, dass wir die Schulden schneller los sind. Außerdem bin ich mir gegenüber ehrlich, wenn ich sage, dass es noch lange dauern wird, bis meine Schreiberei so viel einbringt, dass sie zumindest die Kosten für Lektorat und Druck deckt.«
»Stell dein Licht mal nicht unter den Scheffel«, neckte Josef mich. »Das, was du mir auszugsweise zum Lesen gegeben hast, ist super. Vor allem wird man dabei neugierig auf die Schauplätze und möchte am liebsten selbst dorthin reisen, um alles ansehen zu können. Ich wette, dass du über kurz oder lang der Hauptverdiener sein wirst.« Das glaubte ich weniger, hatte aber etwas anderes im Sinn, als die Diskussion weiterzuführen.
Am nächsten Abend telefonierten wir mit den Jungs in Tel Aviv. Dabei erfuhren wir, dass die Israelis in größter Sorge vor einen Angriff einer, der vielen arabischen Terrorkommandos, waren. Das Militär war in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt worden. Auch an den Flughäfen hatte man die Sicherheitsvorkehrungen erhöht. Eli fragte, ob das anstehende Oktoberfest denn in gewohnter Form stattfinden würde. Darüber diskutierte man noch im Stadtrat, eine endgültige Entscheidung wurde am neunzehnten September erwartet. Traditionsgemäß würde es am kommenden Samstag, Punkt Zwölf Uhr, aus dem Mund des amtierenden Münchner Oberbürgermeisters, Christian Ude, »O’zapft iss« heißen. Seit 1993 hatte er sich darin geübt, mit maximal drei Schlägen das Fass anzuzapfen, und dem Landesvater das erste Glas Wiesn-Bier zu reichen.
»Bis ihr am übernächsten Freitag fliegt, wissen wir mehr«, beantwortete ich Elis Frage. Wir redeten noch eine Weile über die Fortschritte, die Michael altersgemäß machte, bevor wir das Telefonat beendeten.
Auf das Anzapfen und den Einzug der Wiesn-Wirte verzichtete man dann in diesem Jahr, und das Fest fand allgemein ruhiger und gedämpfter statt. Vielen Münchnern war noch das Bombenattentat von 1980 in Erinnerung, bei dem dreizehn Menschen, darunter der Attentäter, den Tod fanden und zweihundertdreizehn verletzt wurden, achtundsechzig davon schwer. Damals hatte man entschieden, dass man sich dem Terror nicht beugen durfte, und dass das Fest nach zweitägiger Unterbrechung fortgeführt wurde, wie bei der Olympiade 1972, wo es geheißen hatte: »the show must go on«.
Eli und Joshua kamen am Freitag vor dem zweiten Wiesn-Wochenende, an dem man jedes Jahr den Eindruck hat, dass ganz Italien in München ist. Dieses Mal hatte ich die beiden, gemeinsam mit Michael, am Flughafen abgeholt. Glücklicherweise war ihr EL AL Flug nahezu pünktlich, so dass wir in der Ankunftshalle nicht lange auf sie warten mussten.
Erwartungsgemäß fremdelte Michael beim Anblick der schwarzbehaarten, fremden Gesichter, was Eli und Joshua aber nicht davon abhielt, sein Gesichtchen mit Küssen zu bedecken. Das Gebrüll, was daraufhin einsetzte, war geeignet, den geschäftigen Lärm in der Halle zu überbieten.
Als wir abends, nachdem Michael gefüttert und zu Bett gebracht worden war, zu Tisch saßen, erzählte Eli von den Bemühungen seines Vaters, seinen Enkel in seine Obhut zu bekommen. Dieses Thema war ja nicht neu, aber der Facettenreichtum, wie er es anzustellen gedachte, fand auch meine Bewunderung. Sein Anwalt musste wohl über das deutsche Konsulat in Tel Aviv versucht haben, meinen Wohnsitz ausfindig zu machen. Allerdings wohl ohne Erfolg. Nur, wenn ich in Israel eine Straftat begangen hätte, wäre, aufgrund bilateraler Abkommen, die Weitergabe dieser Information möglich gewesen. Und eine Straftat hatte ich mit dem Abschalten des Beatmungsgerätes definitiv begangen.
»Was will er mit meiner Adresse?«, fragte ich Eli. Mir war nicht ganz wohl, und ich wollte mir nicht ausmalen, was sich da schon wieder Unheilvolles zusammenbraute.
»Ich weiß es nicht«, Eli zog bedauernd die Schultern hoch.
Josef, der sich denken konnte, was in mir vorging, versuchte mich zu beruhigen.
»Markus, mein Schatz, nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Ich glaube nicht, dass in absehbarer Zeit hier jemand aufkreuzt, um uns Michael wegzunehmen, ausgenommen die Tante vom Jugendamt.«
Jetzt war es an Eli und Joshua zu fragen, um was für Probleme es sich da handele und so erzählten wir beide ausführlich, von ihren Besuchen und unseren Bemühungen, ein neues Zuhause für uns zu finden. Natürlich waren wir stolz darauf, den beiden sagen zu können, dass wir ein passendes Haus gefunden hatten, und wie wir es renovieren und nach unseren Vorstellungen umbauen wollten, und natürlich waren sie begierig darauf, sich das Haus anzusehen. So fuhren wir in der nächsten Woche an einem Nachmittag nach Deining.
Der Besuch des Oktoberfestes war, trotz der gedämpften Stimmung und des miserablen Wetters, ein voller Erfolg. Eli und Josh hatten ihren Spaß und konnten nach ihrer Rückkehr den zahlreichen Freunden von ihren Erlebnissen berichten. Sie beide waren im Bierzelt das Objekt der Begierde zweier, nicht mehr ganz nüchterner Australierinnen, geworden, die nicht begriffen, dass sie es mit einem Homopaar zu tun hatten. Die Damen waren sehr zutraulich und hatten auch nicht davor zurückgeschreckt, den Jungs in die Hosen zu greifen.
Kapitel 14 – Josef
Den Durchschlag des Schreibens von Frau Brandel fand ich zufällig, als ich in dem kleinen Sekretär, in unserem kombinierten Arbeits-Kinderzimmer, nach der Adresse eines befreundeten Bauunternehmers suchte.
„… empfehle ich, das Kind Michael Mendel, geboren am 24.12.2000 in Bethlehem, derzeit bei seinem leiblichen Onkel, Markus Mendel… in die Obhut eines Kinderheimes zu geben.“ Wieso hatte Markus mir von dem Schreiben nichts gesagt? Wie es sich herausstellte, hatte er es in dem ganzen Trubel um die Anschläge, schlichtweg einfach vergessen.
»Du wirst einen erfahrenen Anwalt brauchen, denn ohne richterliche Entscheidung wird Michael keinesfalls aus unserer Obhut genommen werden. Dafür garantiere ich«, sagte ich zu ihm, nachdem ich den Umstand des Erhalts dieser unsäglichen Unverschämtheit erfahren hatte.
»Dann kommen schon wieder Kosten auf uns zu«, jammerte Markus, der sich zum wahren Finanz-Jongleur entwickelt hatte. Ich bewunderte immer wieder, wie er es schaffte, mit dem Wenigen, was er hatte, sämtliche Ausgaben zu bestreiten.
»Lass es kosten, was es will. Wenn wir gewinnen, wovon ich felsenfest überzeugt bin, zahlt die Gegenseite«, versuchte ich Markus zu ermutigen, wobei ich mir da gar nicht so sicher war, was das Gewinnen anbelangte. Recht haben und Recht bekommen sind bekanntermaßen zweierlei Dinge.
Aber ich wollte mich nicht entmutigen lassen. Wir waren auf dem besten Weg, die Voraussetzungen zu schaffen, damit Michael ein eigenes Zimmer bekam.
Der Hof in Deining gehörte uns bereits. Am elften Oktober hatten wir, bei einem Notar in Wolfratshausen, die Papiere unterschrieben.
Zwei Tage, nachdem der amerikanische Präsident George W. Bush, in einer von den Medien durchgeführten Umfrage, mit 92% den höchsten, jemals ermittelten, Wert an Zustimmung für seine Politik erhielt. Einen solchen Wert hatte nicht einmal John F. Kennedy, nach dem Abwenden der Bedrohung durch die Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba, erhalten.
Etwa zur gleichen Zeit, in der wir Eigentümer dieses Anwesens in der Münchner Straße wurden, erhielt der britische Autor V.S. Naipaul in Stockholm den Literatur Nobelpreis. Eines seiner bekanntesten Werke ist „Der mystische Masseur“, ein Buch, das keiner von uns beiden kannte, wie wir abends feststellten, als wir die Nachrichten im ZDF sahen.
Bis zum Ende des Monats hatte der Vorbesitzer Zeit, den Hof zu räumen. Am fünften November sollten Umbau und Renovierung beginnen.
Da Allerheiligen auf den Donnerstag fiel, mussten wir die Kröte schlucken, dass nicht schon am zweiten mit den Arbeiten begonnen wurde. Die Baufirma gönnte ihren Mitarbeitern diesen Brückentag.
Wenn alles gut lief, würden wir Mitte nächsten Jahres in unser neues Domizil einziehen können.
Markus hatte einen Studienkollegen kontaktiert, dessen älterer Bruder Jura studiert und anschließend mit zwei Kommilitonen eine eigene Kanzlei eröffnet hatte. Über diesen Kontakt fand er eine Anwältin, deren Fachgebiet Familienrecht war, und die ihn fortan beraten und wenn nötig, gerichtlich vertreten würde. In einem ausführlichen Schreiben zerpflückte sie den Brandelschen Bericht. Eine Baustelle weniger, dachte ich, als ich ihren Brief las.
Ich hatte mehr zu tun als je zuvor. Der Innenausbau des Hotels war in der Endphase. Nachdem in allen 96 Zimmern die Schränke eingebaut waren, waren wir nun, mit sechs Leuten, damit beschäftigt, den Frühstücksraum mit der integrierten Bar fertigzustellen. Das würde wahrscheinlich das letzte Projekt mit mehreren Subunternehmern sein. Auf meine Stellenanzeige, in einer lokal erscheinenden Zeitung, hatten sich mehr junge Tischler und Schreiner gemeldet, als ich einstellen konnte. Allerdings erbot sich mir dadurch die Möglichkeit, die Besten auszuwählen. Zum ersten Januar wollte ich die neuen Mitarbeiter einstellen. Ab dem Zeitpunkt würde auch Markus auf meiner Lohnliste stehen. Das hatte ich alles im Laufe des Monats mit meiner Steuerberaterin durchgesprochen. Seitdem ich das Unternehmen übernommen hatte, kümmerte sie sich um meine Steuerabschlüsse sorgte dafür, dass alle Meldungen rechtzeitig beim Finanzamt eingereicht wurden. Auch bei der Kalkulation der Personalkosten war sie eine unerlässliche Stütze.
Mit zwei anderen Schreinereien war ich im Gespräch darüber, ob wir unsere Aktivitäten nicht bündeln und gemeinsam eine Kooperative gründen sollten. Mit beiden Schreinern hatte ich die Meisterschule besucht, so dass ich ihre Stärken und Schwächen kannte. Die Qualität ihrer Arbeit konnte man sich in vielen Häusern ansehen. Zusammen, so dachte ich, wären wir viel besser aufgestellt. Jeder von uns war auf einem anderen Gebiet spezialisiert, und bei dem ständigen Konkurrenzkampf, vor allem aus den Billiglohnländern, war es von Vorteil, wenn man Kosten senken konnte. Aber von der Kooperative waren wir noch ein ganzes Stück entfernt. Da würde ich noch viel Überzeugungsarbeit leisten müssen, bis sich der Gedanke in den oberbayrischen Sturschädeln einnistete.
Auf die Idee mit der Kooperative hatte mich Joshua gebracht, der, während ihres Besuches im letzten Monat, von der Zeit berichtete, die er in einem Kibbuz verbracht hatte. Seine Großeltern, die in mehreren polnischen Städten große Kaufhäuser besessen hatten, waren nach der Enteignung nach Israel emigriert und so dem berüchtigten Warschauer Ghetto entgangen.
»Ihr müsst euch das einmal bildlich vor Augen führen«, hatte Josh gesagt. »Meine Vorfahren haben schon immer Handel getrieben und meine Ururgroßeltern das erste, sicher noch sehr bescheidene Warenhaus in Lódź eröffnet, zu dem in den darauffolgenden Jahrzehnten Kaufhäuser in Krakau, Warschau, Danzig, Brest sowie Breslau, Lemberg und Vilma dazukamen. Durch den Pakt, den Hitler mit Stalin geschlossen hatte, demzufolge die Rote Armee am 17. September 1939 in Ostpolen einmarschierte und dieses Gebiet besetzte, hatten es meine Großeltern plötzlich mit neuen und unterschiedlichen Verwaltungen zu tun.« Gebannt hingen wir an seinen Lippen, selbst Eli schien einiges von dem, was Josh im Laufe des Abends noch erzählte, zum ersten Mal zu hören. Als die Hatz der Deutschen Besetzer auf die Juden begann, ging es mit den Konsumtempeln schnell bergab, zumal sich die nichtjüdische polnische Bevölkerung, traditionsgemäß antisemitisch eingestellt, an dieser Hetze beteiligte und die Läden boykottierte. Für einen Bruchteil ihres Wertes waren sie in die Hände von Spekulanten geraten, die es schon immer verstanden hatten, sich in Kriegszeiten zu bereichern.
Als seine Großeltern 1941 Palästina erreichten, hatten sich sowohl sein Opa als auch seine Großmutter der Hagana angeschlossen. Außerdem waren sie in eines der ersten Kibbuze gezogen, am See Genezareth gelegen, wo die Kibbuzim Landwirtschaft betrieben. Wie schon seine Mutter und deren Geschwister, seien auch er und seine Brüder und Schwestern dort aufgewachsen.
»Wir lebten in einer eigenen Gruppe, getrennt von Eltern und Geschwistern, mit Gleichaltrigen zusammen.
Jedes Jahr bekamen wir eine neue Metapelet, eine Kinderfrau, die für unsere Erziehung zuständig war. Unsere Eltern sahen wir nur bei den Mahlzeiten, die gemeinsam im Chadar Ochel, dem Speisesaal, eingenommen wurden. Jedoch im Laufe der Zeit änderte es sich dahingehend, indem aus den Kinderhäusern immer mehr Kindergärten wurden, und immer mehr Eltern mit ihren Kindern als Familie, zusammenlebten, beendete Josh den kleinen Ausflug in seine Kindheit.
»War das nicht schrecklich, die Eltern nur zu den Mahlzeiten zu sehen?«, wollte Markus wissen.
»Ja, nein? Offen gestanden weiß ich nicht wie ich deine Frage beantworten soll. Sagen wir mal so: wenn du es von klein auf nicht anders kennst, dann fehlt dir das Gefühl, etwas zu vermissen nicht. Ja, ich glaube, dass drückt es am besten aus«, beantwortete Josh Markus Frage.
Später, als wir eng aneinander gekuschelt im Bett lagen, meinte Markus: »Grausam, diese Vorstellung. Da wächst so ein kleiner Mensch von Geburt an in einem Kinderhaus, Kinderheim könnte man schon sagen, ohne liebevolle Umarmung seiner Eltern auf. Und für die ist das auch noch absolut normal.«
»Ich kann es mir auch nicht vorstellen, dass wir unseren kleinen Sonnenschein von einer fremden Frau erziehen lassen würden, wissend, dass er nur wenige Meter entfernt von uns lebt«, stimmte ich Markus zu.
In der darauffolgenden Nacht hatte ich wirre Träume, mein Gehirn, schien das Gehörte einordnen und verarbeiten zu wollen. Was mir am nächsten Morgen davon in Erinnerung geblieben war, war ein altes rostiges Schiff, das auf Land zusteuerte, darauf viele Menschen die sich lachend und weinend in die Arme fielen und, auf den Horizont deutend, Palästina, Palästina riefen.
Die Läden waren schon um diese frühe Uhrzeit, kurz vor elf Uhr, brechend voll. Was würde das erst am Nachmittag werden, dachte ich mir, als ich mich in die Schlange vor der Kasse einreihte. Für Michael hatte ich bereits alles, was er zu Weihnachten und zum Geburtstag bekommen sollte. Jetzt musste ich nur noch etwas für Markus und Josef finden, und auch für Eli und Joshua brauchte ich eine Kleinigkeit, denn diese würden das Weihnachtsfest mit uns zusammen verbringen.
Als Markus mir vor einigen Wochen am Telefon erzählt hatte, dass Eli den Vorschlag gemacht hatte, sich an Silvester auf Zypern zu treffen, und Josef und Markus noch am Überlegen waren, ob sie sich diesen Trip leisten wollten, schließlich steckten sie mitten im Umbau, war mir die Idee gekommen, Weihnachten und Silvester zusammen mit der kleinen Familie und den beiden Israelis, bei uns im Rheinland zu feiern.
Markus hatte anfänglich noch gezögert, und auch Bernd war zurückhaltend gewesen, aber Josef fand den Vorschlag gut, und so hatten wir uns darauf geeinigt.
Zum ersten Mal, seit die Kinder aus dem Haus waren, hatten wir unser Heim wieder vorweihnachtlich dekoriert. Bernd hatte sich letzte Woche sogar am Plätzchenbacken versucht, und das Ergebnis konnte sich durchaus sehen lassen.
Nachdem ich endlich den Traktor bezahlt hatte, eine Lauflernhilfe für Michael, quälte ich mich mit der Riesentüte durch die Budengänge des Weihnachtsmarktes, noch um die Entscheidung ringend, ob ich ins Dom Café wollte, mit seinen zertretenen Läufern, oder doch lieber ins Café am Markt. Mit diesem Ungetüm von Geschenk im Schlepptau würde ich wahrscheinlich weder in dem einen noch dem anderen Café eine Chance auf einen freien Tisch haben. Ich entschied, zunächst einmal den Trecker im Auto zu verstauen, das ich in der Parkgarage am Rathaus geparkt hatte, wo ich meistens zu parken pflege, wenn ich in Mainz zu tun habe, da sie verkehrstechnisch die perfekte Lösung darstellt, und danach noch einmal zum Markt zurückzulaufen. Etwas Bewegung konnte nicht schaden.
Ich hatte Glück. In dem Moment, als ich das Café am Markt betrat, erhob sich, an einem Zweiertisch am Fenster, ein älteres Paar.
Während ich das französische Frühstück, mit Brioche, Honig aus der Provence und Camembert aus der Normandie, genoss, schweiften meine Gedanken zurück in das vergangene Jahr, wo wir um diese Zeit noch nicht wussten, welche Katastrophen über uns hereinbrechen würden.
Wenn ich bedachte, dass wir uns um diese Zeit darauf gefreut hatten, zum ersten Mal Großeltern zu werden, und wie das Schicksal dann unbarmherzig zugeschlagen und alles seinen Lauf genommen hatte, dann konnte ich, so wie es jetzt lief, mehr als zufrieden sein. Sicher, Katharinas und Moshes Tod hatten die Freude über Michaels Geburt mehr als verdüstert. Andererseits hätte Bernds Schlaganfall viel schlimmer ausgehen können, insofern mussten wir dankbar sein. Markus war über sich selbst hinausgewachsen, als er in die Vaterrolle schlüpfte, und Josef fand meine grenzenlose Bewunderung dafür, wie er sich um die kleine Familie bemühte.
Bei dem ganzen Trubel waren alle Geburtstage untergegangen, aber im nächsten Jahr, so nahm ich mir vor, würden wir wieder damit beginnen, auch unsere eigene Geburtstage zu feiern.
Wir freuten uns auf Michael Geburtstag, in dreiundzwanzig Tagen, an dem er schon ein Jahr alt werden würde.
»Darfs bei Ihnen noch etwas sein?«, die Stimme der Kellnerin riss mich aus meinen Gedanken.
»Danke, nein, aber ich würde gerne zahlen«, beantwortete ich die Frage. Nachdem ich das Café verlassen hatte, drängte ich mich nochmals durch die immer voller werdenden Budengassen, um zur Dombuchhandlung zu gelangen, wo ich hoffte, etwas Geeignetes für Eli und Joshua zu finden. Vielleicht etwas über Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, den Sohn der Stadt, der um 1450 den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfand, und der von seinem Denkmal, unweit des Doms, auf dem Gutenbergplatz stehend, hinüber zum Landestheater blickt. In englischer Sprache, sollte ja wohl etwas zu finden sein, wenn nicht über Gutenberg, dann vielleicht etwas über die Römer, die den Weinbau nach Deutschland gebracht haben.
Auch in der Buchhandlung traten sich die Menschen buchstäblich gegenseitig auf die Füße.
»Leider nein«, beschied mir die Buchhändlerin, »versuchen Sie es doch mal direkt im Gutenbergmuseum, die könnten da so etwas haben.« Auf diese Idee hätte ich auch selbst kommen und mir die ewige Warterei im Gedränge ersparen können.
Im Museumsshop wurde ich tatsächlich fündig und erwarb für Eli und Joshua jeweils ein Miniaturbuch des englischen Schriftstellers Doyle. Wer welches bekam, würde ich beim Verpacken entscheiden.
Nachdem ich diese Geschenke nun hatte, war mein Bedarf an Weihnachtseinkäufen gedeckt.
Als ich am frühen Nachmittag die Haustür aufschloss, schlug mit der Geruch von Vanille und weiteren Aromen entgegen, und aus der Küche hörte ich Bernds Stimme, der offenbar bestens gelaunt versuchte, Bing Crosby bei White Christmas zu unterstützten.
»Da bist du ja wieder, wie war es?«, begrüßte mich Bernd.
»Entsetzlich, sei froh, dass du nicht mitgekommen bist. Die Stadt ist brechend voll«, antwortete ich und schälte mich aus meinem Mantel.
»Kein Wunder, die haben alle ihr Gehalt bekommen, wir haben den Ersten. Und dann auch noch Weihnachtsgeld dazu«, sagte Bernd und öffnete die Ofentür. Der Geruch, der dem Ofen entströmte, weckte bei mir ein Hungergefühl. Dabei hatte ich doch vor nicht allzu langer Zeit ausgiebig gefrühstückt.
»Mein Gott, du backst wie ein Lebzelter«, neckte ich Bernd, als er das Blech, mit den lecker aussehenden Lebkuchen, auf der Anrichte abstellte und ein weiteres Blech in den Ofen schob. »Wer soll das alles essen?«
»Na, wer wohl?«, lachte er, »die Jungs werden davon nicht viel übriglassen. Das sind gestandene Männer, und zeig du mir mal einen Mann, der nichts Süßes mag.« Da mir eher nach etwas Herzhaftem war, und die Uhr sich langsam, aber sicher, auf die Vier zubewegte, machte ich Bernd den Vorschlag, am frühen Abend nach Heddesheim zu fahren, um dort etwas Deftiges zu essen. Ein Vorschlag, dem er gerne zustimmte, denn nach dem Backen hatte er verständlicherweise keine Lust mehr, etwas zu kochen.
In der folgenden Woche rief mich eines Abends Josef an und berichtete, dass Markus zusehends depressiver werde. Mittlerweile befand sich Markus in therapeutischer Behandlung, weswegen Josef diesen Schub nicht nachvollziehen konnte. Mir war schon klar, dass es noch viel zu früh war, um bei Markus Psyche von einer Stabilisierung ausgehen zu können. Solche Rückfälle würde es noch öfter geben, vor allem an Geburtstagen und eben auch an Weihnachten, wo wir ja am fünfundzwanzigsten Dezember Katharinas ersten Todestag hinter uns bringen mussten. Ein Spagat für uns alle, ein Tag vorher Michaels Geburtstag feiern und nahtlos seine Mama betrauern.
»Wann kommt ihr denn nun?«, fragte ich Josef, nachdem er mir sein Leid geklagt hatte.
»Am Freitag, dem einundzwanzigsten, hatten wir gedacht. Ich möchte morgens noch meinen Vater besuchen, auch wenn er mich nicht mehr erkennt«, beantwortete Josef meine Frage. Er tat mir leid, ihm blieb wirklich nichts erspart, und ich fragte mich oft, woher er die Kraft nahm, dies alles zu meistern. Ein weniger gefestigter Mensch hätte längst die Flinte ins Korn geworfen und wäre stiften gegangen. Aus meiner Praxis kannte ich genügend Fälle, in denen es so gelaufen war.
»Wechselt ihr euch beim Fahren wenigstens ab?«, holte ich ihn in die Realität zurück, bevor er rührselig wurde.
»Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist«, lachte Josef, »du weißt ja, dass ich nicht gerade der beste Beifahrer bin, und Markus mir zu defensiv fährt. Bei dem Tempo, mit dem er unterwegs ist, brauchen wir bestimmt eine Stunde länger.« Im Hintergrund hörte ich Markus protestieren, der inzwischen wohl Michael zu Bett gebracht hatte und nun das Telefonat mitbekam.
»Irene, ich muss Schluss machen, dein Sohn steht neben mir und reißt mir fast den Hörer aus der Hand. Grüße bitte Bernd von mir«. Ich hatte kaum Zeit, mich von Josef zu verabschieden, da hörte ich auch schon Markus, der wissen wollte, ob Josef mit mir wegen Weihnachten gesprochen hätte. Da ich nicht wusste, ob und wieviel Markus vom ersten Teil des Gespräches zwischen Josef und mir mitbekommen hatte, verhielt ich mich zunächst zurückhaltend.
»Er hat dir doch sicher gesagt, dass er meint, ich wäre dabei, mich wieder in einer Depression zu vergraben«, drang Markus Stimme an mein Ohr.
»Markus, Josef macht sich Sorgen, er hat Angst um dich. Sei dankbar, dass er so sensibel reagiert. Oder wäre dir ein Macho als Partner lieber? Dann hättest du dir einen anderen Mann suchen müssen«, versuchte ich die Wogen zu glätten, bevor der Wellengang einem Orkan glich.
»Nein, natürlich will ich keinen Macho. Und natürlich bin ich dankbar. Ich weiß doch selbst nicht, was mit mir los ist«, aus seiner Stimme klang die pure Verzweiflung. Markus hatte wirklich einen Schub. Vielleicht sollte man ein leichtes, stimmungshebendes Medikament einsetzen. Das hätte ich bei meinen Patienten zumindest in Erwägung gezogen.
»Was sagt denn deine Therapeutin?«, tastete ich mich behutsam vor, »hat sie dir denn Medikamente empfohlen?« Nun musste Markus Farbe bekennen.
»Ja, das war das Erste was sie gemacht hat, kaum dass sie wusste, worum es geht.« Schweigen am anderen Ende der Leitung. Ich sagte nichts, wartete darauf, dass Markus das Gespräch fortführte.
»Du weißt doch, dass ich keine Medikamente nehme«, erklang, nach einer gefühlten Ewigkeit, trotzig Markus Stimme.
»Manchmal ist es sinnvoll, sich dem Rat seiner Ärzte anzuschließen«, sagte ich, »es hilft nichts, sich selbst zu quälen, nur um seinen Prinzipien treu zu bleiben.« Wir telefonierten noch eine ganze Weile, und ich versuchte Markus Gedanken in eine positive Richtung zu lenken, indem ich ihm zu verstehen gab, dass sowohl seine Schwester als auch Moshe bestimmt sehr stolz auf ihn seien, wenn sie von einer anderen Ebene aus seine Bemühungen verfolgten.
In der darauffolgenden Nacht fand ich fast keinen Schlaf. Zwar schlief ich schnell ein, wachte aber nach kurzer Zeit aus einem Alptraum auf und fand danach nicht mehr in einen erholsamen Schlaf zurück. Lange lag ich grübelnd wach und wurde mir bewusst, dass ich meine Trauerarbeit nicht geleistet hatte, nicht einmal ansatzweise. Auch bei mir machte sich die Verzweiflung mit einem Schlag breit. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war ich wie gerädert.
Bis kurz vor Weihnachten hatte ich viel zu tun, zumal sich auch noch offenbar alle meine Patienten mit einer Erkältung, wenn nicht sogar grippalem Infekt, in die Praxis schleppten. Für Markus und Josef hatte ich immer noch kein Geschenk und war gezwungen, am Samstag, vor dem dritten Advent, nochmals in die Stadt zu fahren.
Dieses Mal begleitete Bernd mich, was das Tempo erheblich drosselte, da er immer noch das Bein nachzog. Außerdem wollte er, wenn wir schon in Mainz waren, den Weihnachtsmarkt besuchen. Das ließ sich eh kaum vermeiden, da ich wieder in der Rathausgarage geparkt hatte, und wir auf dem Weg in die Altstadt, wo wir in einem winzig kleinen Café zu frühstücken gedachten, den Weg durch die Budenstraßen nehmen mussten, wollten wir nicht einen größeren Umweg in Kauf nehmen.
Bernds Idee, in diesem Café zu frühstücken, erwies sich als Glücksfall, denn beim anschließenden Bummel durch die Altstadt, wo es bei weitem nicht so voll war, kamen wir an einem Trödelladen vorbei, dessen Auslage uns dazu animierte, mal hineinzugehen und uns umzuschauen. Tatsächlich fanden wir schon nach kurzer Zeit ein Untergestell eines antiken Nähmaschinentisches mit Tischplatte und Treibrad. Der Preis schien angemessen, aber wir hatten ein Problem damit, wie wir dieses schwere Teil nach Hause bringen sollten.
»Oh, das ist eine ganze Ecke weg«, meinte der ältere Herr, der seinem Auftreten nach, wohl der Besitzer zu sein schien. »Warten Sie mal, vielleicht gibt es eine Lösung«, sagte er und verschwand in einem Nebenraum. Als er nach kurzer Zeit wiederkehrte, strahlte er und erklärte uns, dass ihm eingefallen sei, dass einer seiner Angestellten ja in unserer Nachbargemeinde Dromersheim wohne und sich bereit erklärt hätte, den Tisch auf seinem Nachhauseweg bei uns vorbeizubringen.
»Der junge Mann schlägt dabei zwei Fliegen mit einer Klappe. Er kann mit dem Firmenwagen nach Hause fahren und muss nicht erst mit dem Zug nach Bingen und von dort mit dem Bus weiter. Außerdem hat er am Montagmorgen hierher, den Vorteil ein zweites Mal.
Auf dem Weg vom Café zum Trödler hatte es bereits angefangen, leicht zu schneien. Im Verlauf des Tages wurde daraus ein mäßig starker Schneefall, und als abends, kurz vor neunzehn Uhr, der junge Mann den Tisch lieferte, schneite es heftig.
Bernd und ich halfen mit, den Tisch aus dem Wagen zu heben und ins Haus zu bringen. Ich steckte dem jungen Mann einen Zwanziger zu, worüber er sich sichtlich freute, und schaute dann den langsam kleiner werdenden Rücklichtern nach, bis sie nach der scharfen Rechtskurve nicht mehr zu sehen waren. Auf der steilen Straße war es in den vergangenen Jahren, vor allem bei so einem Wetter, immer wieder zu Unfällen gekommen, die jedoch meist glimpflich ausgingen.
Am nächsten Morgen machten wir uns auf, um einen Weihnachtsbaum zu kaufen. Wir hatten eine bestimmte Vorstellung, wie er aussehen sollte. Uns schwebte eine dichtgewachsene, etwa zwei Meter hohe Colorado Tanne vor, deren zerriebene Nadeln einen wunderbaren, zitronenartigen Duft hervorbringen. Vor vielen Jahren, die Kinder mochten damals etwa Vier oder Fünf gewesen sein, hatte Bernd einen solchen Baum angeschleppt, und infolge kam für uns kein anderer Baum mehr in Frage.
Wir waren an diesem dritten Advent sehr lange unterwegs, bis wir bei einem Weihnachtsbaumverkäufer in Bad Sobernheim ein Exemplar fanden, das unseren kritischen Blicken standhielt. Es dunkelte fast schon, als wir die Rückfahrt antraten.
Die nächsten zweieinhalb Tage vergingen wie im Flug. Da die Praxis ab Mittwochnachmittag bis nach Neujahr geschlossen war, was wir unseren Patienten seit mehreren Wochen mit Hinweisen, sowohl am Tresen als auch an der Eingangstür, kundtaten, strömten sie in Massen herbei, meist aber nur, um schnell noch ein Rezept ausgestellt zu bekommen.
Als die letzte Patientin kurz nach dreizehn Uhr die Tür hinter sich geschlossen hatte, setzten wir uns zu einem gut zweistündigen Kaffeeplausch zusammen, bei dem meine Mädels ihre Geschenke erhielten. Eine Weihnachtsfeier gab es schon seit Jahren nicht mehr. Stattdessen machten wir alljährlich im Frühsommer einen eintägigen Betriebsausflug.
Bernd und ich hatten uns vorgenommen, den Baum am Spätnachmittag zu schmücken. Umso überraschter war ich, als ich kurz nach halb Vier unser Wohnzimmer betrat, und den Baum bereits aufgestellt und mit der Lichterkette versehen vorfand. Bernd hatte unseren Nachbar Rainer gebeten, ihm beim Aufstellen des Baumes behilflich zu sein, wozu dieser gerne bereit war und seinen Filius dazu vergattert hatte, ihnen beiden dabei zu helfen. Die drei Männer, oder besser gesagt zwei Männer und der Teenager saßen am Esstisch und begutachteten ihr Werk. Dass sie das nicht ohne ein Glas Bier taten, versteht sich von selbst. Wobei ich es nicht unbedingt gut fand, dass der knapp siebzehnjährige Volker um diese Uhrzeit bereits Alkohol trank.
Als wir uns an diesem Abend zu Tisch setzten, leuchtete der Baum, den wir, wie vor vielen Jahren, mit unserem alten Holzschmuck dekoriert hatten.
Es wurde spät, bis die kleine Familie, freitags vorm Fest, eintrudelte. Durch den Wintereinbruch und gleichzeitigem Ferienbeginn hatte es auf der Autobahn mehrere Staus gegeben. Entsprechend müde sahen alle aus, einschließlich Michael, der bereits kurze Zeit später in seinem Bettchen lag und schlief.
»Mama, wie schön«, hatte Markus angesichts des Baumes gesagt, dann liefen ihm bereits die Tränen.
»Wow, ist der toll«, war Josefs Kommentar gewesen, bevor er Markus in den Arm genommen hatte und ihn tröstete.
Als wir samstags beim Frühstück saßen, hatte sich Markus Stimmung wieder aufgehellt. Dafür sorgte schon Michael, der, nun wach und munter, ohne Unterlass vor sich hin brabbelte.
»Das macht er ständig. Sobald er wach ist, erzählt er sich etwas. Und nichts ist vor seinen Händen sicher«, klärte Markus uns auf. Das hätte er nicht erwähnen müssen, denn gerade als er es sagte, bekam Michael eine Vase zu fassen, die unmittelbar darauf in tausend Scherben am Boden lag, woraufhin er zu greinen anfing. Markus wollte schon von seinem Stuhl aufspringen, als ich ihm zuvorkam und zu ihm sagte:
»Iss du mal weiter und lass das mal die Oma machen«, woraufhin ich Josef zustimmend nicken sah.
»Na, junger Mann«, sagte ich zu meinem Enkel, nachdem ich ihn auf den Arm genommen hatte, wo er sich gleich wieder beruhigte und los brabbelte. »Hast du dir gedacht, das scheußliche Ding braucht die Oma nicht mehr, Mhh?«. Mit seinen braunen Augen schaute er mich groß an.
»Ist nicht schlimm, dein Opa hat auch schon ein paar Vasen kaputt gemacht. Bei ihm springen die komischerweise immer von selbst vor den Staubsauger.« Damit hatte ich Bernd ein Stichwort gegeben, der nun den Jungs erzählte, dass er beide Bodenvasen, rein zufällig und unbeabsichtigt, in die Hölle geschickt hatte.
»Ja, ja, unbeabsichtigt«, sagte Markus, »du kannst ruhig zugeben, dass du die ollen Dinger noch nie leiden konntest.« Damit hatte er recht, Bernd hatte sich von Anfang an gewehrt, dass wir diese Vasen aufstellten, obwohl sie Erbstücke seiner Mutter waren.
»Wann landen denn die Israelis?«, lenkte Bernd ab.
»Planmäßig um kurz nach Eins, das heißt, wir müssen spätestens kurz nach halb zwölf los«, beantwortete Josef Bernds Frage.
»Den Kleinen lasst ihr aber hier, oder?«, mit fragendem Blick sah ich die beiden an, hoffte darauf, mal ein paar Stunden allein mit meinem Enkel verbringen zu dürfen.
»Macht dir das denn auch nicht zu viele Umstände?« Die Frage war so typisch für Josef. Immer war er bemüht, dass alle es komfortabel hatten.
»Ach, i wo, Umstände, was sind denn das für Worte«, wehrte ich ab. Wir sahen den Kleinen eh viel zu selten, und was hatte er in der Zwischenzeit für Fortschritte in seiner Entwicklung gemacht. Er konnte ja fast schon laufen, und auf sein erstes Wort warteten wir schon mit Spannung. Es konnte nicht mehr lange dauern. Ich glaube, die beiden waren ganz froh, mal ein paar Stunden für sich zu haben, auch wenn sie diese Zeit im Auto und auf dem Flughafen verbringen würden.
»Schau, da fährt der Papa mit Josef im Auto«, erzählte ich Michael, als wir vom Fenster aus dem Wagen nachblickten, den Josef vorsichtig aus der Ausfahrt lenkte. Ich hatte Papa gesagt, war das in Ordnung? Noch war Markus Michaels Onkel und würde dies Zeit seines Lebens auch bleiben. Sobald die Adoption bestätigt war, wäre er auch gleichzeitig sein Vater, wenn auch nicht sein leiblicher, ging mir durch den Kopf.
»Worüber grübelst du?«, fragte Bernd, der zu uns getreten war und Michael über die Wangen strich.
»Ob es richtig ist, wenn ich Papa zu Michael sage, wenn ich Markus meine«, antwortete ich.
»Was willst du sonst sagen, Onkel?«, Bernd legte den Arm um mich. »Mach dir nicht so viele Gedanken. Egal was du sagst, wichtig ist, dass Michael spürt, dass er geliebt wird, und ich glaube, das spürt er.«
Ich kannte ja bislang Eli und Joshua nur von Fotos, auf denen sie sehr attraktiv wirkten, umso mehr war ich davon angetan, dass sie auch noch äußerst charmant und geistreich waren. Wir verstanden uns vom ersten Augenblick an.
Die beiden schienen genauso vernarrt in Michael zu sein, wie auch der Rest der Familie. Michael, der anfangs gefremdelt hatte, zerrte an ihren schwarzen Bärten, was bei Eli und Josh nur ein Lachen hervorbrachte, wobei ich mir vorstellen konnte, dass es manchmal auch weh tat, wenn er mit seinen kleinen Händen, nicht gerade sanft, an den Gesichtshaaren riss. Warum konnte der Rest des Weizmann Clans nicht auch so sein, fragte ich mich. Elis Eltern sind doch genauso Michaels Großeltern, wie Bernd und ich es auch sind. Es sollte doch, ein knappes Jahr nach der Tragödie, endlich möglich sein, miteinander zu reden, allein schon Michaels wegen.
»Ich hoffe, ihr habt kein Problem mit meinem Essen, wandte ich mich an Eli und Josh. »Dass nichts vom Schwein dabei ist, davon könnt ihr ausgehen. Allerdings verstehe ich absolut nichts von koscherer Küche und koche so, wie ich es gewohnt bin.«
»Irene, mache dir bitte weder Gedanken darüber noch irgendwelche Umstände. Wenn wir bei unseren Familien sind, dann essen wir natürlich koscher. Bei Freunden, oder wenn wir auf Reisen außerhalb Israels sind, essen wir, was auf den Tisch kommt. Wir sind da nicht pingelig«, beruhigte mich Josh, der darum gebeten hatte, dass wir ihn so, wie alle seine Freunde, mit der Kurzform seines Namens ansprechen sollten.
Nun war ich doch etwas beruhigter. Ich hatte, nachdem klar war, dass sie Weihnachten und Silvester bei uns sein würden, sowohl Markus als auch Josef danach gefragt, ob sie wüssten, wie streng sich Josh und Eli an die Essensgebräuche hielten, was beide verneint hatten.
Zum Abendessen hatte ich Endiviensalat gemacht, dazu gab es Lammmedaillons mit einer Pfeffersoße und Kartoffelpüree. Als wir zu Tisch saßen und ich, nicht ohne Stolz, die glücklichen Gesichter aller Männer am Tisch sah, denen es offensichtlich sehr schmeckte, wagte ich Josh zu fragen, ob dieses Essen denn nun koscher sei oder nicht.
»Lamm ist koscher und Kartoffelpüree ebenfalls. Aber der gleichzeitige Genuss ist nicht koscher«, klärte Eli mich an Joshs Stelle auf, da dieser sich gerade eine weitere Gabel Kartoffelpüree einverleibt hatte.
»Nun verstehe ich gar nichts mehr«, seufzte ich.
»Das ist für einen Nichtjuden auch schwer nachvollziehbar«, klärte Eli mich weiter auf. »Fleisch- und Milchspeisen zur gleichen Zeit und vom selben Geschirr zu essen, ist für aschkenasische Juden undenkbar.« Warum dem so ist, darüber klärte Josh uns auf, der, wie auch Eli, aus einem aschkenasischen Elternhaus stammt. Mein Gott, wie kompliziert, dachte ich mir, nachdem ich noch mehr erfahren hatte. Welch ein Aufwand da betrieben wurde, nur weil das so in der Tora stand. Das war ja in etwa so, als wollte ich nach der Bibel kochen, wobei ich zugeben muss, dass ich nicht weiß, ob darin irgendetwas über Essenzubereitung steht.
Den vierten Advent verbrachten Bernd und ich, Michael hütend, zuhause. Markus und Josef waren nach dem Frühstück mit Eli und Josh nach Frankfurt gefahren, wo an allen vier Advent-Sonntagen die historische Eisenbahn entlang des Mains fuhr, eine Attraktion, die sie den Israelis unbedingt zeigen wollten. Vorher wollten sie noch über den Weihnachtsmarkt am Römer bummeln. Auf dem Nachhauseweg gedachten sie, dem Mainzer Markt einen Besuch abzustatten, wo ab fünfzehn Uhr Chöre aus umliegenden Gemeinden, bei der lebensgroßen Krippe nahe des Doms, Weihnachtslieder sangen.
Während Bernd sich am Nachmittag um Michael kümmerte, mit ihm spielte und von Weihnachten erzählte, verpackte ich letzte Geschenke, bevor ich unser Abendessen vorbereitete. Scharfes Hühnchen Curry mit Reis hatte ich vorgesehen und machte mir keine Gedanken mehr darüber, ob es koscher war oder nicht.
Als wir beim Abendessen saßen, kam das Gespräch auf Bräuche und Riten. So erzählte Bernd, wie er als Kind am Nikolausabend immer ganz bang darauf wartete, dass der Nikolaus erschien, der ihn abfragte, ob er denn brav gewesen sei und somit etwas aus dem großen Sack bekäme, den dieser mit sich führte, oder ob er aber unartig war und die Rute Knecht Rupprechts verdient hätte, seinem finsteren Gesellen, der Bernd, schon allein bei dessen Anblick, das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Elis Frage, warum man den Kindern mit dieser Figur Angst einjage, konnte keiner von uns beantworten. Vermutlich war es einfach, ein seit Jahrhunderten übernommenes Brauchtum, dass sich als Erziehungsmethode bewährt hatte.
»Eigentlich passt diese Sitte nicht zur Person Nikolaus‘, der ja zu den Top Ten der zahlreichen Heiligen, der Ost- und der lateinischen Kirche zählt«, bemerkte Bernd und erzählte dann, dass Nikolaus, übereinstimmenden Überlieferungen nach, zwischen 270 und 276 in Patara, einer Stadt in Lykien, geboren wurde.
»Mit neunzehn Jahren wurde er von seinem Onkel, der ebenfalls Nikolaus hieß, und Bischof von Myra war, zum Priester geweiht und zum Abt des Klosters Sion, in der Nähe von Myra, dem heutigen Demre, ernannt. Demre ist ein Ort an der Südküste der Türkei, in der zu damaliger Zeit Griechisch gesprochen wurde. Sein ererbtes Vermögen verteilte er unter den Armen. Um den Heiligen ranken sich zahlreiche Legenden, unter anderem die der Mitgiftspende, in der ein verarmter Mann beabsichtigt, seine drei Töchter zu Prostituierten zu machen, weil er sie nicht standesgemäß verheiraten kann. Nikolaus hört davon und wirft an drei darauffolgenden Abenden jeweils einen Goldklumpen durch das Fenster der Jungfrauen. Am dritten Abend entdeckt der Vater Nikolaus, dankt ihm und fragt nach seinem Namen. Deswegen wird Nikolaus in der Malerei häufig mit drei goldenen Kugeln oder drei roten Äpfeln als ikonografischem Heiligenattribut dargestellt«, beendete Bernd seinen kleinen Vortrag und erntete Beifall.
»Wow, du weißt ja gut Bescheid«, sagte Josh. »Kann ich davon ausgehen, dass du praktizierender Christ bist?«, wollte Eli von Bernd wissen. Ich war gespannt, was er darauf antworten würde.
»Ich bin agnostischer Atheist. Unser Wertesystem gründet aber, wie in vielen anderen Staaten auch, auf den zehn Geboten. Ich bin bemüht, mich an diese zu halten. Zwar bin ich getauft und auch christlich erzogen, aber mir fehlt der Glaube an die Existenz eines höheren Wesens«, beantwortete Bernd Elis Frage.
»Wie ist es eigentlich mit euch, wie haltet ihr es mit dem Glauben?«, mischte Josef sich in das Gespräch ein und blickte dabei zunächst Eli, der ihm gegenübersaß, und danach Josh an, der links von ihm saß. »Ihr stammt doch beide aus einem ultraorthodoxen Elternhaus, wenn ich das richtig verstanden habe«, fügte er noch hinzu.
»Ja, wie halten wir es? Gute Frage!« Eli war es, der dies sagte und seinem Partner in die Augen blickte.
»Wir gehen an Feiertagen, wenn wir bei unseren Familien sind, schon mal in die Synagoge, aber das war es auch schon«, beantwortete Josh Josefs Frage.
»Schabbat halten wir keinen, aber das Lichterfest begehen wir«, schaltete sich Eli nun in das Gespräch mit ein, »sogar die traditionellen Segen sprechen wir an Chanukka.«
»Chanukka und Lichterfest, ist das nicht ein und dasselbe?«, wollte Bernd wissen.
»Chanukka ist die hebräische Bezeichnung für Lichterfest. Und der achtarmige, manchmal auch neunarmige Leuchter nennt sich Chanukkia«, erklärte Eli. Dann erzählte er, dass am fünfundzwanzigsten Kislev, was im jüdischen Kalender unseren Monaten November und Dezember entspricht, zum Gedenken an die Wiedereinweihung des zweiten jüdischen Tempels in Jerusalem, nach dem erfolgreichen Makkabäer Aufstand der Juden Judäas gegen hellenisierte Juden und makedonische Seleukiden, das achttägige Lichterfest gefeiert wird.
»Das ist so im Ersten Buch der Makkabäer bei Flavius Josephus und im Talmud überliefert«, ergänzte Josh Elis Erklärung, um dann fortzufahren:
»Sie führten den traditionellen Tempeldienst wieder ein, nachdem sie die Zeus Statue zerstört hatten, die von hellenistischen Juden errichtet worden war, die Jahwe mit Zeus gleichstellten und auf hellenistische Art verehrt hatten.«
»Die Menora, der siebenarmige Leuchter, im Tempel sollte niemals ausgehen. Aufgrund der Kämpfe gab es aber nur noch einen Krug Öl, was nur für einen Tag reichte. Für die Herstellung neuen Öls brauchte man aber acht Tage. Wie durch ein Wunder brannte der Leuchter volle acht Tage«,
klärte Josh uns auf.
»Alle Achtung, ihr kennt euch gut mit eurer religiösen Geschichte aus«, sagte ich, worin mir Markus, Bernd und auch Josef zustimmten.
»Bei uns sieht man in der Weihnachtszeit viele siebenarmige Leuchter in den Fenstern stehen, was besonders abends schön ausschaut, wenn sie beleuchtet sind.
»Das sind Menoren, was du da siehst«, klärte Eli mich auf. »Eine Chanukkia muss mindestens acht Arme haben, da jeden Tag ein neues Licht entzündet wird, bis am achten Tag alle Lichter brennen.«
»Sagtest du nicht etwas von neunarmigen Leuchtern? Wozu der neunte Arm, wenn nur acht Lichter brennen sollen?«, wollte ich von Eli wissen.
»Die Kerzen oder Öllampen, was immer man auch benutzt, werden nicht einfach mit einem Feuerzeug entzündet. Das neunte Licht, der Schamasch, also der Diener, dient einzig dazu, die acht Lichter der Chanukkia anzuzünden. Bevor man das macht, müssen aber die Segen gesprochen werden. Und es ist wichtig, dass zuvor das Abendgebet gesprochen wurde, und die ersten Sterne am Himmel funkeln, sprich, dass es halt dunkel ist«, antwortete Josh an Elis statt.
»Ich möchte wetten, dass ihr die Segenssprüche auswendig kennt«, ließ sich Markus vernehmen.
Das hätte er vielleicht nicht sagen sollen, denn nun wurden wir Zeuge, wie glaubensfest die beiden Israelis sind. Josh begann hebräisch zu rezitieren, und Eli übersetzte ins Englische:
Baruch atah Adonaj, Elohejnu Melech HaOlam, ascher kideschanu bemitzwotaw we’tziwanu lehadlik ner schel’chanukkah.
Gepriesen seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du uns geheiligt durch deine Gebote und uns geboten, das Chanukkahlicht anzuzünden.
Baruch atah Adonaj, Elohejnu Melech HaOlam, sche’asah nissim La’wotejnu bajamim hahem basman haseh.
Gepriesen seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der Du Wunder erwiesen unseren Vorfahren in jenen Tagen zu dieser Zeit.
Baruch atah Adonaj, Elohejnu Melech HaOlam, schehechijanu, wekijemanu wehigianu la’seman haseh.
Gepriesen seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der Du uns hast Leben und Erhaltung gegeben und uns hast diese Zeit erreichen lassen.
Mir rieselte es eiskalt über den Rücken, an meinen Armen stellten sich die Härchen auf, so wunderschön hatte Josh diese Segenssprüche mit seiner melodischen Baritonstimme intoniert und Elis Bass die Übersetzung vorgetragen.
Wir applaudierten, und mitten im Jubel quäkte das Baby-Fone, und wir hörten Michael brabbeln, der recht munter zu sein schien. Ungewöhnlich, denn eigentlich schlief er durch.
Da es schon sehr spät war, zogen wir uns alle in unsere Schlafzimmer zurück.
In der Nacht hatte es weiter geschneit, und am Morgen waren die Straßen weiß. Da hieß es, im Schritttempo ins Dorf hinunterzufahren, um beim Bäcker die bestellten Baguettes abzuholen, und Brötchen fürs Frühstück mitzubringen. Josef übernahm diese Aufgabe, wofür ich ihm dankbar war, hatte ich doch dadurch etwas mehr Zeit, um mich ums Frühstück zu kümmern.
Nach dem Frühstück, bei dem sich Markus erkundigt hatte, ob die Schlitten aus ihrer Kinderzeit noch existierten und dankbar war, dass Bernd darauf bestanden hatte, sie für kommende Enkel aufzubewahren, machten sich die Jungs auf, um sich auf einem nahegelegenen Acker, der schon seit Ewigkeiten den Kindern des Dorfes als Rodelpiste diente, dem weißen Vergnügen hinzugeben. Michael nahmen sie natürlich mit, und so erlebte er an seinem Geburtstag seine erste Schlittenfahrt.
Ihm hatten wir ein Ständchen gesungen und dann, zusammen mit ihm, seine Geburtstagsgeschenke ausgepackt. Eli und Josh hatten ihm einen Teddybären geschenkt, und vom Rest der Familie bekam er altersgerechtes Spielzeug.
Am Spätnachmittag, als die Dämmerung fast schon dem Dunkel der Nacht wich, war es Zeit für die Bescherung. Unser Wohnzimmer wurde nur von der Lichterkette des Weihnachtsbaums beleuchtet, als ich mit dem Glöckchen läutete, was für alle anderen bedeutete, dass sie nun hereinkommen durften.
Dieses Leuchten in Michaels Augen, das schönste Weihnachtsgeschenk überhaupt. Nicht, dass ich mich nicht über die anderen Geschenke gefreut hätte. Von Markus und Josef bekam ich einen Gutschein für eine Behandlung in einem Kosmetikstudio, und Bernd hatte für den passenden Rahmen, nämlich für ein Wellnesshotel in Südtirol gesorgt. Von Eli und Josh erhielten wir eine wunderschön gearbeitete, silberne Chanukkia, ein Geschenk, das wir nicht annehmen wollten, weil es uns viel zu wertvoll erschien. Andererseits wollten wir die beiden auch nicht brüskieren, und so bedankten wir uns.
Der Nähmaschinentisch wurde stürmisch bejubelt, und auch Josh und Eli freuten sich über die Miniaturbücher aus dem Gutenbergschen Museum.
Die größte Überraschung sollten wir aber erst im Laufe des Abends erleben, als wir beim Raclette saßen und Michael, auf Markus Schoß sitzend, sein erstes Wort sagte: »Osef.«
»Was hast du gesagt, sags nochmal, bitte?«, Josef kullerten Tränen aus den Augen. Und da erklang es wieder: »Osef.«
»Das ist nun der Dank für alle meine Mühe«, grummelte Markus, was allgemeines Gelächter auslöste.
Kapitel 16 – Markus
Wir waren wieder einmal auf dem Weg zu meinen Eltern ins Rheinland, Ostern stand vor der Tür, und entsprechend voll war die Autobahn. Es hatte sich seit Weihnachten einiges getan.
Die Umbauten an unserem Haus in Deining waren abgeschlossen und das Haus bereits neu getüncht. Wir gingen davon aus, dass wir Mitte des nächsten Monats mit den Renovierungsarbeiten im Inneren beginnen konnten. Da wir am Äußeren nicht viel verändern konnten, ohne den Denkmalschutz auf den Plan zu rufen, hatten wir uns damit begnügt, Fenster und Fensterläden zu erneuern und eine neue Haustür einzubauen, die der Ursprünglichen glich, aber aus Kunststoff war. Gleiches galt für die Fenster. Nur die Fensterläden hatten wir wieder in einer Holzausführung gewählt, die sie authentischer wirken ließen als Kunststoffläden es getan hätten.
Die Wand zwischen der Küche und der dahinter liegenden Stube hatten wir, soweit es möglich war herausgenommen und dadurch eine geräumige Wohnküche erhalten. Die beiden Räume auf der anderen Seite des Flurs, früher vermutlich als Wohn- und Schlafzimmer genutzt, hatten wir ebenfalls in einen Raum verwandelt, wovon eine Ecke später als Büro genutzt werden sollte. Das alte Badezimmer im Erdgeschoss hatten wir komplett herausgerissen, und an seiner Stelle gab es nun eine Gästetoilette.
Dafür waren die vier Zimmer in der oberen Etage so umgebaut worden, dass es je ein größeres Zimmer für Michael sowie für Josef und mich gab und ein etwas Kleineres, das als Gästezimmer dienen sollte. Aus dem, durch die Umbauten etwas geschrumpften, vierte Zimmer, würde unser zukünftiges Badezimmer werden.
Seit dem ersten Januar war ich nun offiziell bei Josef als Halbtagskraft angestellt und hatte mich recht schnell in die von ihm genutzten Programme eingearbeitet. Wahnsinnig viel war nicht zu tun, solange ich die Dinge zeitnah erledigte, was nicht immer machbar war, da ich ja auch noch mit dem Buchprojekt über das indische Eisenbahnwesen beschäftigt war. Ich versuchte, den Spagat zwischen Pflicht und Kür hinzubekommen. Noch war Josefs Buchführung Pflichtprogramm und mein Buch das Freizeitvergnügen. Sollte es mir wirklich gelingen, das Buch zu veröffentlichen, und so viele Exemplare davon zu verkaufen, dass man von rentabel sprechen konnte, dann würde das anders aussehen, aber bis dahin war sicher noch ein weiter Weg, da machte ich mir nichts vor.
Michael war jetzt in einer Entwicklungsphase, wo er ständig etwas Neues lernte. Klappte mal etwas nicht so, wie er das wollte, dann wurde er schnell zornig. Sein Sprachschatz entwickelte sich ständig. Das hatte nicht nur angenehme Seiten. Nachdem ich an Weihnachten ja etwas enttäuscht darüber gewesen war, weil sein erstes Wort ‚Osef‘ war, so kämpfte ich jetzt damit ihm abzugewöhnen mich Hase zu rufen. Josef fand es lustig, wenn Michael auf mich deutete und dabei ‚Hase‘ sagte, bemühte sich aber, zugegebenermaßen, dem Kleinen beizubringen, mich ‚Papa‘ zu rufen. Viel Erfolg war ihm bislang damit nicht beschieden. Problematisch wurde es, als wir beim Spaziergang einen Feldhasen sahen und Josef unbedacht Michael darauf aufmerksam machte, indem er Hase sagte. Michael, der es gewohnt war, dass alles so hieß, wie wir es ihm beibrachten, sah Josef mit großen Augen an, deutete dann auf mich und sagte ‚Hase‘. Dann fing er an zu weinen.
Momentan saß er quietschvergnügt in seinem Kindersitz im Fond und erzählte seinem Bären etwas. Michael konnte sich sehr gut mit sich selbst beschäftigen und musste nicht andauernd bespaßt werden, was mir zugutekam, da ich dadurch mehr Zeit hatte, mich um meine Arbeit zu kümmern.
Während wir nahezu im Schritttempo den Aichelberg hinabrollten, unterhielten wir uns über die jüngsten Ereignisse im Nahen Osten.
»Da wird es nie Ruhe geben«, sagte Josef, »solange es kein Zweistaatensystem gibt. Die Israelis sind nicht gerade zimperlich im Umgang mit den Palästinensern.«
»Was sollen sie denn deiner Meinung nach machen, um sich gegen die ständigen Attentate zur Wehr zu setzen?«, wollte ich von Josef wissen. »Du brauchst doch nur mal an die letzten drei Monate zu denken. Fast kein Tag, an dem man nicht von irgendwelchen palästinensischen Selbstmordattentaten gehört hat. Die sind keinen Deut besser.«
»Schade nur, dass durch diese ganze Scheiße Eli und Josh nicht kommen konnten wie sie es vorhatten«, Josef trommelte mit seinen Fingern auf dem Lenkrad, ein sicheres Zeichen, dass er von der Kriecherei genervt war.
»So ganz verstanden, was die Attentate damit zu tun haben, dass sie ihre Reisepläne canceln mussten, habe ich nicht«, sagte ich, mich dabei zum Rücksitz umdrehend, wo es verdächtig ruhig geworden war.
»Schläft«, sagte Josef, nach einem Blick in den Rückspiegel, um dann nahtlos meine Bemerkung von eben zu kommentieren: »ich bin mir zwar nicht sicher, aber ich glaube, dass Josh bei einem der Geheimdienste arbeitet. Wer weiß, was die als Vergeltung für die vielen Anschläge austüfteln.« Damit konnte er natürlich recht haben.
Bereits einen Tag später, am Karsamstag, berichteten die Medien darüber, dass die israelischen Streitkräfte bei einer Offensive gegen die Stadt Ramallah, den Hauptsitz des Präsidenten der Autonomiebehörde, Jassir Arafat, besetzt hatten. Gleichzeitig hatte die israelische Regierung eine Teilmobilisierung veranlasst. Am Ostersonntag berichtete Associated Press, dass in den vergangenen achtzehn Monaten 1.262 Palästinenser und 401 Israelis bei den Konflikten ums Leben gekommen waren.
Es war wieder einmal sehr spät, als Josef den Wagen in die Einfahrt zu meinem Elternhaus steuerte.
Nachdem wir Michael zu Bett gebracht hatten, saßen wir mit meinen Eltern beim Abendbrot, wo sich die Gespräche sehr schnell nochmal um das vergangene Weihnachtsfest und auch um Israel drehten.
Nachdem wir ja einen wunderschönen Heiligabend verbracht hatten, ging es mir in den danach folgenden Tagen seelisch sehr schlecht. Es begann bereits in der Nacht zum Fünfundzwanzigsten, in der ich von Alpträumen geplagt wurde, aus denen ich immer wieder schweißgebadet erwachte, nur um kurze Zeit später scheinbar nahtlos die Fortsetzung zu träumen: Ich war wieder in Bethlehem, stand an Katharinas Bett, sah die vielen Schläuche, mit denen sie am Leben gehalten wurde…, …. Jagten mich junge ultraorthodoxe Juden, in ihrer typischen Tracht, mit den langen Schäferlocken, die unter ihren Hüten hervorlugten, den schwarzen Mänteln, die sie über ihren ebenfalls schwarzen Anzügen trugen…, … tötet ihn, tötet ihn, er hat seine Schwester umgebracht, die eine von uns gewesen ist, Adonai, Adonai… Mir gingen diese Träume den ganzen ersten Weihnachtstag über nicht aus dem Sinn, dazu hatte sich eine grenzenlose Traurigkeit eingestellt, kurzum, ich war alles andere als kommunikationsfreudig, und das, wo wir doch Eli und Josh zu Besuch hatten.
Aber auch den beiden ging es nicht gut, betrauerten sie doch ebenfalls Elis Bruder Moshe und genauso Katharina, mit der sie sich gut verstanden hatten. Meinen Eltern ging es auch nicht viel besser, wenngleich sie, genau wie Josef, versuchten, die Stimmung nicht zur Gänze in die Trostlosigkeit abgleiten zu lassen, allein schon Michaels wegen, der ja nicht verstehen konnte, warum wir so deprimiert waren.
Entsprechend ruhig hatten wir auch die weiteren Tage inklusive Silvester verbracht. Eli hatte erzählt, dass sich die gesamte Weizmann Familie an Moshes Todestag an dessen Grab auf dem Har HaMenuchot Cemetry versammelt, und die Männer das Kaddish gesprochen hatten. Er hatte Fotos dabei, auf denen wir zum ersten Mal die Gräber von Moshe und Katharina sahen. Da wir die hebräischen Inschriften natürlich nicht lesen konnten, übersetzte Josh, was dort geschrieben stand.
Auf Moshes Grabstein war die Inschrift: Hier ist geborgen Moshe Weizmann 1969 – 2000, und darunter weitere fünf Buchstaben eingemeißelt, die abgekürzt den Vers „Möge seine Seele eingebunden sein in den Bund des Lebens“ aus dem Buch Samuel bedeuten. Katharinas Grabstein unterschied sich lediglich durch das Geburtsjahr und die weibliche Sprachform.
»Was haben die Steine auf den Gräbern zu bedeuten?«, hatte Josef gefragt, und von Eli die Erklärung erhalten, dass das auf das Urjudentum zurückzuführen sei. Anstelle von Blumen lege man beim Besuch der Gräber kleine Steine dort ab, da früher die Gräber häufig mit großen schweren Steinen versiegelt wurden, zum Beispiel in der Wüste, um die Toten vor wilden Tieren zu schützen, und damit die Totenruhe zu gewährleisten.
Des Weiteren erfuhren wir, dass jüdische Gräber nicht eingeebnet, und dass die Toten nicht verbrannt werden dürfen.
»Ich möchte dieses Jahr unbedingt mit deinem Vater nach Israel fliegen«, sagte meine Mutter zu mir, als ich die Reste unseres Abendessens in den Kühlschrank räumte, während sie damit beschäftigt war, die Spülmaschine zu beladen.
»Meinst du nicht, dass das zu gefährlich ist?«, gab ich zu bedenken. Wobei mir schmerzlich bewusst wurde, dass ich so lange nicht nach Israel würde reisen können, bis der Weizmann Clan Ruhe gab und die Ermittlungen um Katharinas Tod eingestellt waren.
Von Eli wussten wir, dass der alte Weizmann immer noch seine Verbindungen spielen ließ, damit der Fall nicht zu den Akten gelegt wurde. Allerdings war er wohl nicht mehr so fanatisch wie noch im letzten Jahr, was vielleicht auch damit zusammenhing, dass geschäftliche Belange seine ganze Aufmerksamkeit erforderten.
»Wann ist es im Nahen Osten nicht gefährlich«, beantwortete meine Mutter meine Frage. »Wenn wir darauf warten wollen, dann können wir nie Katharinas Grab besuchen«. Dass sie nicht nur das Grab besuchen wollte, sondern sich darüber hinaus auch mit Judith Weizmann treffen wollte, erzählte sie uns am Ostersonntag, als wir beim Mittagessen saßen und das Thema nochmal auf den Tisch kam.
»Was willst du?«, fragte mein Vater, der davon offenbar auch zum ersten Mal hörte.
»Mich mit Judith treffen, was ist daran so verwunderlich?«, beantwortete meine Mutter die Frage. Dabei blickte sie uns herausfordernd an.
»Und du glaubst, du brauchst da nur anzurufen, zu sagen, dass wir im Land sind und kannst dann am nächsten Tag schnurstracks bei den Weizmanns einlaufen?«, dem ironischen Ton meines Vaters konnte man entnehmen, dass er den Gedanken für eine Schnapsidee hielt.
Meine Mutter antwortete darauf nicht, stand auf, trat an das Sideboard und entnahm der obersten Schublade einen Brief, den sie meinem Vater kommentarlos in die Hand drückte. Ich erkannte Elis Handschrift und war nicht der einzige Neugierige, der wissen wollte, was in dem Brief stand.
Der Umschlag enthielt nicht nur einen zweiseitigen Brief Elis, sondern auch noch einen weiteren Umschlag mit einem in Hebräisch handgeschriebenen weiteren Schreiben.
„Liebe Irene…“, begann mein Vater vorzulesen.
„… habe ich mich sehr über die Fotos und ihren Brief gefreut. Ich stimme Ihnen zu, dass es an der Zeit ist, alte Wunden zu heilen…“, mein Vater ließ das Blatt sinken.
»Du hast Kontakt zu Elis Mutter aufgenommen?«, verwundert blickte er meine Mutter an.
»Ich dachte mir, von Mutter zu Mutter ist es leichter, schließlich haben wir beide ein Kind verloren…“.
Wie sie uns später erzählte, hatte sie schon vor Weihnachten mit dem Gedanken gespielt, Kontakt zu Elis Mutter aufzunehmen. Aufgrund meiner Alpträume an Weihnachten, von denen ich ihr in einer ruhigen Minute erzählt hatte, hatte sie Eli gefragt, ob er einen Brief, den sie seiner Mutter schreiben wollte, übersetzen und weiterleiten würde. Wir sollten davon erst einmal nichts erfahren. Erst wenn Elis Mutter auf ihren Brief antworten würde, hatte sie beschlossen, würde sie uns davon erzählen.
»Das ist meine Osterüberraschung«, sagte meine Mutter, nachdem sie wieder Platz genommen hatte.
»Die dir mehr als gelungen ist«, bemerkte Josef und auch ich stimmte kopfnickend zu.
»Und wann wollt ihr nun fliegen«, wollte ich wissen. Mein Vater zuckte mit den Schultern. Da er genauso überrascht war wie wir, war er in die Reisepläne meiner Mutter nicht eingeweiht.
»Ich dachte zwischen Himmelfahrt und Pfingsten«, antwortete meine Mutter, »das hängt allerdings auch davon ab, ob Eli und Josh dann Zeit haben. Sie haben angeboten, dass wir bei ihnen wohnen können und würden auch mit uns nach Jerusalem fahren«.
Da hatte meine Mutter mal wieder Nägel mit Köpfen gemacht, wie Josef am nächsten Tag so treffend sagte, als wir uns auf der Rückfahrt befanden.
Kapitel 17 – Bernd
Die ständigen Terrorangriffe in Israel waren der Grund, warum wir den von Irene geplanten Besuch auf unbekannte Zeit verschoben. Anfang letzten Monats hatte es im Nordbezirk einen Selbstmordanschlag des Islamischen Dschihad auf einen Linienbus gegeben, bei dem siebzehn Menschen den Tod fanden und am achtzehnten Juni einen Anschlag in Jerusalem mit neunzehn Toten.
In Elis Brief, der heute gekommen war, hatte er uns beschworen, die Reise nicht zu machen, es sei einfach viel zu gefährlich. Er machte uns den Vorschlag, stattdessen nach Zypern zu reisen. Er würde seine Mutter zu einem Kurzurlaub dorthin einladen. Es sei so viel einfacher, eine Familienzusammenführung anzubahnen, vor allem, da sein Vater nichts von der Sache wissen sollte. Darum hatte seine Mutter ihn gebeten, weil sie wusste, dass ihr Mann noch weit davon entfernt war, einem Treffen zuzustimmen und es ihr auch verbieten würde.
Ein heimliches Treffen in Jerusalem sei nahezu unmöglich, hatte er weiter geschrieben, da die Familie zu sehr bekannt sei, und sie garantiert von irgendwem gesehen würden, was unangenehme Fragen nach sich ziehen könnte.
»Wenn wir nach Zypern, statt nach Israel fliegen, dann könnten uns die drei Deininger doch begleiten«, sagte Irene, nachdem sie den Brief zur Seite gelegt hatte.
»Zumindest Markus und Michael«, antwortete ich, »bei Josef bin ich mir nicht sicher, ob er weg kann. Als ich gestern mit ihm telefoniert habe, hatte er gestöhnt, dass er sich vor Aufträgen kaum retten kann.« Ich hatte das kaum gesagt, als Irene auch schon den Telefonhörer in der Hand hielt. Markus meldete sich wohl unmittelbar nach dem ersten Klingelton, so kam es mir jedenfalls vor. Er war nicht sehr begeistert von unserer Idee, schob zu viel Arbeit vor, und dass er Josef nicht allein lassen könnte, jetzt, wo sie mitten in der Umbauphase steckten.
»Von jetzt ist auch nicht die Rede…«, hörte ich Irene sagen, »… dachte an Mitte September, dann sind die Temperaturen auch nicht mehr so hoch, und bis dahin dürftet ihr doch wohl soweit sein…«
Das Telefonat dauerte noch eine ganze Weile, Irene erkundigte sich natürlich auch nach Michael, und vor allem war sie daran interessiert zu erfahren, ob es etwas Neues bezüglich der Adoption gab.
Das Adoptionsverfahren zog sich, für unsere Begriffe, unwahrscheinlich in die Länge. Wir befürchteten, ohne dass wir Josef und Markus etwas davon sagten, dass das Schreiben der Tante vom Jugendamt, Ursache für die Verzögerung war.
Josef war es, der Markus zuredete, uns, mit Michael zusammen, auf der Zypernreise zu begleiten. Er war, genau wie Irene, der Meinung, dass es nicht schaden konnte, wenn die Weizmann Oma ihren deutschen Enkel nicht nur von den Fotos, die Eli ihr regelmäßig zusteckte, kannte.
»Es ist doch etwas ganz anderes, wenn du den kleinen Fratz in den Armen hältst und abbusseln kannst«, hatte er Markus gegenüber argumentiert, der sich schließlich geschlagen gab und zustimmte.
So war ich Mitte Juli endlich in der Lage, in einem Bad Kreuznacher Reisebüro, die Flüge und ein Hotel zu buchen, nachdem Irene und ich tagelang Prospekte gewälzt hatten. Da wir etwas Ruhiges, in Meeresnähe gelegenes suchten, hatten wir uns schließlich, auf Anraten der netten Dame im Reisebüro, für eine, auf den Fotos nett aussehende, kleine Appartementanlage in Pissouri, einem kleinen Dorf an der Südküste, unweit des Aphrodite Felsens gelegen, entschieden.
»Sie können bequem zu Fuß von der Anlage zum Strand gehen, das dauert keine zehn Minuten«, hatte Frau Junghans, wie das Namensschild auf ihrem Schreibtisch, die Dame auswies, gesagt. »Allerdings empfehle ich Ihnen, einen Leihwagen zu mieten, denn vom Flughafen bis dahin sind es gut einhundert Kilometer. Außerdem sind Sie dann viel beweglicher, sie wollen sich doch sicher die Sehenswürdigkeiten der Insel ansehen?«, hatte sie hinzugefügt. Das mit dem Leihwagen erschien mir logisch zu sein, allerdings erforderte dies eine Änderung unserer Pläne. Markus wollte mit Michael ab München fliegen und wir beide natürlich ab Frankfurt. Während der Flug ab München bereits am Vormittag startete, würde unser Flieger erst am frühen Nachmittag abheben. Das hieße, dass Markus auf dem Hinflug mit dem Kleinen bis zum Abend auf dem Flughafen festsitzen würde, um auf uns zu warten. Umgekehrt müssten wir, weit vor dem Abflug unserer Maschine in Larnaca sein, damit Markus und Michael ihren Flug nicht verpassten.
»Ich glaube, da muss ich nochmal mit meiner Familie beratschlagen, wie wir das mit den Flügen machen«, sagte ich, woraufhin Frau Junghans ihren Computer befragte und mir dann klar machte, dass wir keine Zeit verlieren durften, beide Flüge waren schon nahezu ausgebucht. Irene konnte ich nicht fragen, sie wartete auf mich im Quellenhof, und Markus, den ich vom Reisebüro aus anrief, ging nicht ans Telefon.
»Wir nehmen die Flüge ab Frankfurt, drei Erwachsene und ein Säugling«, entschied ich.
»Wie alt ist das Kind?«, wollte Frau Junghans wissen.
»Mein Enkel Michael wird am vierundzwanzigsten Dezember zwei Jahre alt«, beantwortete ich ihre Frage.
»Warum ist das wichtig?«, wollte ich von ihr wissen, um dann von ihr darüber aufgeklärt zu werden, dass Kinder bis zum Alter von zwei Jahren keinen eigenen Sitzplatz bekamen, und daher auch der Ticketpreis nur zehn Prozent des regulären Preises betrug.
Nachdem ich einen Verrechnungsscheck für die Anzahlung ausgestellt hatte, verließ ich das Reisebüro und begab mich, so schnell ich konnte, zum Quellenhof. Wieder einmal brauchte ich in diesem nassen Sommer einen Schirm.
Markus, den ich am gleichen Tag abends über die Änderung informierte, war davon nicht gerade angetan, sah aber ein, dass es die praktikabelste Lösung war.
Irene und ich freuten uns auf die zwei Wochen Zypern, würden wir dort doch endlich wieder einmal die Gelegenheit haben, unseren Enkel, den wir seit Ostern nicht mehr gesehen hatten, ausgiebig zu verwöhnen.
Markus sandte uns regelmäßig Fotos von Michael und den Renovierungsarbeiten in ihrem neuen Domizil. Im Erdgeschoss waren die Arbeiten abgeschlossen und im ersten Stock waren das Kinderzimmer sowie das Schlafzimmer von Josef und Markus fertiggestellt. Das Badezimmer sah noch sehr nach Baustelle aus. Es war nur in der einen Ecke, im Bereich der Duschkabine, gefliest. Alles andere war im Rohzustand. Immerhin konnten sie duschen, dafür hatte der Installateur gesorgt. Für die Gesichts- und Zahnpflege nutzten sie die Gästetoilette im Erdgeschoss. Michael wurde in einer Plastikwanne gebadet, ein vorübergehender Zustand, der von der Betreuerin des Jugendamtes, kritisch beäugt wurde, als sie zu Beginn der letzten Woche unangekündigt vorbeischaute. Immerhin schien sie umgänglicher zu sein als ihre Vorgängerin. Als Markus sie fragte, ob sie wisse, wieweit sein Adoptionsantrag bearbeitet sei, erfuhr er, dass dieser mindestens so lange auf Eis liegen würde, bis die Umbauarbeiten abgeschlossen seien. Auch seine Lebensweise als Selbständiger mit ungeregeltem Einkommen, dazu unverheiratet und offensichtlich in einer homosexuellen Beziehung lebend, trügen nicht gerade dazu bei, dass man an höherer Stelle der Adoption positiv gegenüber stünde.
Markus war sehr geknickt, als er mir das abends am Telefon berichtete.
»Wir wussten doch von Anfang an, dass es nicht einfach werden würde«, sagte ich, »aber du bist immerhin schon einen gewaltigen Schritt weitergekommen, dadurch, dass der Fall nun einer anderen Betreuerin übertragen wurde. Die junge Frau scheint doch auf deiner Seite zu stehen, sonst hätte sie nicht ausdrücklich darauf hingewiesen, dass man an höherer Stelle die Bearbeitung verzögert.«
»Man könnte meinen, wir leben im finstersten Mittelalter«, echauffierte Markus sich, »nur weil wir schwul sind unterstellt man uns, nicht in der Lage zu sein, die Verantwortung für ein Kind übernehmen zu können.« Wenn es um seine sexuelle Orientierung ging, dann konnte Markus auf die Barrikaden gehen. Er forderte zu Recht, gleichbehandelt zu werden, wobei er sich, meiner Meinung nach, manchmal mit seiner Pingeligkeit selbst im Weg stand. Er fühlte sich mitunter diskriminiert, was bei genauer Betrachtung aber lediglich an der, in den Köpfen verankerten, und auf die eigene Erziehung zurückzuführende Moralvorstellung, vorzugsweise älterer Mitmenschen beruhte, die schon mal schräg blickten, wenn sie Josef und ihn, mit Michael in ihrer Mitte, Hand in Hand spazieren gehen sahen.
»Hast du der Dame denn nicht gesagt, dass du inzwischen finanziell durch deinen Halbtagsjob in Josefs Firma und den Mieteinnahmen des Hauses in Gau Algesheim, abgesichert bist?«, fragte ich und erfuhr, dass er wohl vergessen hatte, dem Jugendamt diese Information zukommen zu lassen. Nachdem ich ihm geraten hatte, Kopien der entsprechenden Unterlagen schnellstmöglich dem Jugendamt zu schicken, beendeten wir unser Telefonat.
Bereits Anfang August hatte es in den Alpen heftige Regenfälle gegeben, die zu Hochwasser in sämtlichen Flüssen führte. Das Tiefdruckgebiet Ilse hielt sich über mehrere Tage und führte zu einer Verlagerung in den Osten des Landes, wo es um den zwölften, dreizehnten August zu dramatischen Szenen kam. In Dresden war nicht nur die Semperoper sowie der Hauptbahnhof und der Landtag geflutet, auch in weiten Teilen der Innenstadt stand das Wasser in den Geschäften. Am fünfzehnten August wurde Meißen von der ersten Hochwasserwelle erfasst, wobei Teile der Porzellanmanufaktur zerstört wurden. Weite Gebiete Ostdeutschlands standen unter Wasser. Die Bundeswehr war, genauso wie das Technische Hilfswerk und die lokalen Feuerwehren, im Dauereinsatz. Menschen, die ihren Urlaub an Elbe und Oder verbrachten, wurden zu Helfern in der Not, andere reisten extra in den Osten, um vor Ort Hilfe zu leisten. Deutschland erlebte zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung eine unglaubliche Solidarität zwischen Ost und West. Die Schäden bezifferten sich schnell im Milliardenbereich. Allein die Semperoper benötigte siebenundzwanzig Millionen Euro für die nötigen Renovierungsarbeiten, die Staatliche Kunstsammlung, zu der auch die Gemäldegalerie zählt, weitere zwanzig Millionen. Der Dresdner Hauptbahnhof bezifferte den Schaden auf zweiundvierzig Millionen Euro.
Weit schlimmer jedoch als die materiellen Schäden, war der Verlust von Menschenleben und der Tod der ungezählten Tiere.
Egal zu welcher Tageszeit man den Fernseher einschaltete, wurde von neuen Katastrophen berichtet. Bundeskanzler Gerhard Schröder stapfte werbewirksam in Gummistiefeln durch Dresden, versprach schnelle Hilfe, ein Versprechen was ausnahmsweise auch gehalten wurde. Dies spiegelte sich in den Bundestagswahlen wider, die im September stattfanden und es Schröder ermöglichten, die rotgrüne Koalition fortzusetzten.
Als ich am vierzehnten September, auf dem Flug nach Larnaca, die Zeitung durchblätterte, beherrschte das Jahrhunderthochwasser noch immer die Schlagzeilen.
Kapitel 18 – Irene
Auf unser Gepäck hatten wir nicht lange warten müssen, und auch die Übernahme des Mietwagens ging rasch vonstatten. Der Linksverkehr war zunächst etwas ungewöhnlich, vor allem für Bernd der als Beifahrer auf der falschen Seite saß, wie er es ausdrückte. Markus hatte ja schon etwas Erfahrung und steuerte den Wagen souverän durch die zahlreichen Kreisel auf der Küstenstraße.
Als wir in Pissouri ankamen war es bereits dunkel.
Die Anlage sah im Schein der Laternen malerisch aus, von der Terrasse des Restaurants wehte, von Musik untermalt, Stimmengewirr zu uns, als wir der Angestellten folgten, die uns zu unseren Appartements führte.
Bernd hatte zwei Appartements gebucht. Markus, der in zwei Tagen dreißig wurde, wunderte sich darüber, ahnte aber zum Glück nichts von der großen Überraschung, die ihn erwartete.
Nachdem wir uns häuslich eingerichtet und erfrischt hatten, genossen wir unser erstes zypriotisches Essen, begleitet von der Darbietung einer lokalen Folkloregruppe, die von den zumeist britischen Gästen frenetischen Applaus erhielt.
»Warum hast du nicht ein großes Appartement mit zwei Schlafzimmern gebucht?«, wollte Markus beim Essen wissen. Bernd, der die Frage erwartet hatte, griff zu einer kleinen Notlüge und behauptete, dass keines frei gewesen sei, als er die Reise buchte. Bei dem Gewusel, auf der Terrasse und in dem großen Speisesaal, war dies eine plausible Erklärung, und Markus vertiefte das Thema dann auch nicht weiter.
»Hast du nochmal mit Eli telefoniert?«, fragte ich.
»Ja, vorgestern. Sie fliegen am Donnerstag. Nach Paphos. Dort hat er für seine Mutter und sich zwei Zimmer im Elysium Hotel gebucht. Er meldet sich, wenn sie da sind.« Etwas nervös war ich schon. Das musste ich mir eingestehen.
Michael schlief in unserem Appartement. Darum hatte ich Markus gebeten. Wir sahen unseren Enkel eh viel zu selten, und da wollten wir keine Minute missen. Markus hatte auch nur schwachen Widerstand geleistet. Er war sicherlich froh, auch einmal ausschlafen zu dürfen.
Den Sonntag verbrachten wir damit, uns zu akklimatisieren, gingen zum Strand und begutachteten den winzigen Ort, der fast nur aus einer Straße bestand. Ein winziger Dorfladen, ein Lokal, mehr gab es nicht. Das eigentliche Dorf klebte an dem Hügel, der das Tal im Nordwesten begrenzte.
Dorthin verschlug es uns abends. Steile Sträßchen, zwei kleine Läden, zwei Lokale mit Tischen und Stühlen davor, besetzt von Einheimischen. Wir waren wohl die einzigen Touristen, die hierhergefunden hatten. Die Verständigung war schwierig, die Wirtsleute sprachen kein Englisch und von uns keiner griechisch. Mit der Getränkebestellung ging es ja noch, aber wie sollten wir das Essen ordern? Der Wirt löste dieses Problem, indem er uns, einen nach dem anderen, in die Küche lotste und dort auf die Töpfe und Pfannen deutete.
Das Essen war sehr lecker und dazu noch um einiges preiswerter als in unserer Appartementanlage.
Als ich am nächsten Morgen an Markus Tür klopfte, öffnete er nicht, und war auch nicht auf der Terrasse anzutreffen, wo es schon sehr lebhaft zuging. Als ich ihn auch nicht am Buffet antraf, wurde ich doch etwas nervös. Michael, auf den sich meine Nervosität wohl übertragen hatte, weinte schon eine ganze Weile.
»Weit kann er nicht sein«, beruhigte mich Bernd, der sich vor der Anlage umgesehen hatte. »Der Wagen steht da, wo er ihn gestern Abend geparkt hat. Er wird wahrscheinlich nur einen Spaziergang machen. Lass uns frühstücken, ich habe Hunger.« Michael hatte sich wieder beruhigt. Er beäugte die Katzen, die um die Tische herumschlichen, in der Hoffnung, gefüttert zu werden. Diesen Gefallen taten ihnen auch etliche Urlauber.
Während Bernd sich das englische Frühstück munden ließ, knabberte ich an zwei Scheiben Toast mit etwas Butter und Honig. Selbst Michael schien mehr zu essen als ich.
Die Zeiger der Uhr rückten auf die Zehn zu, die Terrasse leerte sich, die Liegen am Pool waren nahezu alle belegt und von Markus noch immer keine Spur.
»Bleib du mit Michael hier«, sagte ich zu Bernd. »Ich geh mal zum Strand, schau, ob er dort ist. Er wird ja wohl kaum ins Dorf hochgelaufen sein, so steil wie die Straße ist«. Meine Vermutung sollte sich bestätigen. Markus saß, mit vom Weinen verquollenen Augen, an einen Felsen gelehnt, in der östlichsten Ecke des nahezu menschenleeren Strandes. Noch immer quälte ihn sein Gewissen. Trotz der Therapie, zu der er in regelmäßigen Abständen ging, und bei der auch Fortschritte zu machen schien.
»Wenn ich wenigstens ihr Grab besuchen könnte«, schluchzte er, als ich ihn wie ein Kind in meinen Armen hielt. »Keine dreihundert Kilometer!«, er deutete mit der linken Hand in Richtung des Felsens, der die Sicht gen Osten behinderte.
»Irgendwann wirst du ihr Grab besuchen können. Katharina ist dort, wo sie sein soll. In unseren Herzen«, versuchte ich meinen dreißigjährigen Sohn zu trösten. Wir saßen noch eine ganze Weile, jeder seinen Gedanken nachhängend.
Ich erinnerte mich an ihre Geburt. Eigentlich sollten unsere Zwillinge erst gute vierzehn Tage später zur Welt kommen, das hatte zumindest mein Frauenarzt so ausgerechnet. Wir wohnten damals noch in Kempten, einem Vorort von Bingen, in einer kleinen Wohnung im zweiten Stock, direkt an der verkehrsreichen Straße und der nicht minder befahrenen Bahnstrecke gelegen, aber mit Blick auf den Rhein, wie wir uns das schönredeten. Den Fluss konnte man bestenfalls im Winter sehen, wenn die Bäume entlaubt waren.
Wir saßen an diesem Samstagmorgen gerade beim Frühstück, als ein schmerzhaftes Ziehen die erste Wehe ankündigte. War ich damals panisch gewesen? Ich wusste es nicht mehr. Auf jeden Fall war der Koffer noch nicht gepackt und Bernd wuselte durch die kleine Wohnung, um das Notdürftigste einzupacken. Die nächste Wehe, das weiß ich noch, ließ lange auf sich warten. Erst am frühen Nachmittag, da waren wir schon lange in Mainz, im St. Elisabethen Krankenhaus, wurden die Abstände immer kürzer, und um sechzehnuhrzehn wurde Katharina als erste entbunden, Markus folgte seiner Schwester wenige Minuten später auf die Welt.
Als wir endlich wieder im Hylatio Village ankamen, diesen Namen hatten die Besitzer ihrer schönen Appartementanlage gegeben, warteten Bernd und Michael schon sehnsüchtig auf uns.
»Hase«, sagte Michael und wollte auf Markus Arm genommen werden. Nun war es an Markus, sich um Michael zu kümmern. Bernd und ich hatten Konspiratives zu erledigen und suchten dazu das Gespräch mit dem Patrone. Nachdem dies erledigt war, drängte Bernd dazu, am Nachmittag einen Ausflug zu machen. Er wollte unbedingt den Aphrodite Felsen sehen, von dem die Legende sagt, dass Liebespaare, die in Vollmondnächten dreimal um den Felsen schwimmen, die ewige Liebe finden werden.
Laut meinem Reiseführer soll es in sommerlichen Vollmondnächten dort stärkeren Andrang geben als an Novembertagen in unsrem städtischen Hallenbad.
Damit sie nicht zu früh zurückkommen würden, hatte Bernd noch den Besuch des Aphrodite Tempels in Kouklia eingeplant. Sollten sie dann immer noch zu viel Zeit haben, stand der Besuch der Aphrodite Quelle in Latschi, auf Bernds Plan. Um einen Grund zu haben, nicht mitfahren zu müssen, schob ich leichtes Unwohlsein vor und legte den dreien ans Herz, sich einen reinen Männertag zu machen. Bernd moserte zum Schein etwas herum. Michael bekam noch eine Zwischenmahlzeit, dann blickte ich dem Wagen nach, als Markus das Fahrzeug vom Parkplatz steuerte. Drei Generationen männlicher Mendels allein unterwegs.
Beim Abendessen entschied Markus »Ich nehme die Zypernplatte«, und legte die Karte zur Seite. Bernd entschied sich für Fisch, und ich wusste immer noch nicht, was ich essen wollte. Es klang alles so verlockend. Als die Bedienung an unseren Tisch trat, entschied ich mich spontan für einen griechischen Salat, den die Karte als zypriotischen Salat auswies.
Bernd und ich hatten die Plätze strategisch so gewählt, dass Markus mit dem Rücken zur Bar saß. Ausnahmsweise hatte ich darauf verzichtet, dass Michael neben mir saß. Sein Kinderstuhl stand neben dem Stuhl seines Hasen, wie er Markus nach wie vor nannte. Markus war damit beschäftigt, Michael mit Reisbrei zu füttern, etwas was der Junge liebte, und was die Köche, auf unsere Bitte hin, extra für ihn gekocht hatten.
Die junge Frau, die meinen Salat und Bernds Fisch servierte, sagte zu Markus, dass seine Zypernplatte sofort käme.
»Osef«, krähte Michael vergnügt, als dessen warme Stimme zu Markus sagte: »Sie hatten unsere Zypernplatte geordert.« Die Überraschung war gelungen, Markus war perplex.
»Wo kommst du denn her«, fragte er völlig entgeistert.
»Aus der Küche, oder woher dachtest du, dass ich diese köstlich duftende Zypernplatte für zwei Personen habe«, neckte Josef Markus, um ihn, nachdem er die Platte abgestellt hatte, in seine Arme zu ziehen, für einen langen, sehr intimen Kuss.
»Aber du hast doch heute am Spätvormittag noch mit mir telefoniert.« Markus konnte es immer noch nicht fassen.
»Ja mein Hase, vom Münchner Flughafen aus. Ich kann dich doch deinen runden Geburtstag nicht ohne mich feiern lassen.«
Mittlerweile hatte sich auch die eigens zu diesem Anlass engagierte Musikerin eingefunden, deren Vorstellung wir am Abend zuvor nur nebenbei mitbekommen hatten. Da sie als erstes ein Happy Birthday anstimmte, wussten die anderen Gäste, was an unserem Tisch gefeiert wurde. Der Tag, der mit Melancholie begonnen hatte, fand ein fröhliches Ende.
Judith Weizmann entpuppte sich als eine vitale Achtundfünfzigjährige, die trotz ihrer Rolle als weibliches Oberhaupt, einer, in der chassidischen Tradition verwurzelten Familie, elegant gekleidet, mit dezentem, aber sicher sehr teurem Schmuck, an Elis Seite auf uns zukam.
Wir alle waren etwas angespannt. Da stand sie nun, Michaels andere Oma, mit einem kleinen Teddybären in der Hand, den sie Michael reichte, als sie ihm zur Begrüßung zärtlich über die Haare und die Wangen strich. Michael, auf Markus Arm sitzend, nahm den Teddy, versteckte aber fremdelnd seinen Kopf an Markus Hals.
Um den Jungen nicht zu verunsichern, hatten wir ihm nur gesagt, dass diese Frau Elis Mutter sei. Um ihm Judith Weizmann als seine zweite Großmutter vorzustellen, hielten wir Michael noch nicht für alt genug. Er betrachtete Markus und Josef als seine Eltern. Wie hätten wir ihm erklären sollen, dass er mit dieser fremden Frau verwandt ist.
Das Treffen fand am Freitag um die Mittagszeit statt. Eli hatte auf der Terrasse des Elysiums einen Tisch reserviert, und beim gemeinsamen Mittagessen löste sich die anfängliche Anspannung allmählich auf. Wir waren schnell dazu übergegangen, uns mit den Vornamen, statt der Familiennamen anzureden. Bald drehten sich unsere Gespräche um unsere Familien, unsere Kinder und Enkelkinder, natürlich auch um Katharina und Moshe, deren Verlust wir alle zu beklagen hatten.
So erfuhren wir von Judith, dass sie aus New York stammte, wo ihre Familie die Vorschriften der Thora und des Talmud nicht so pingelig auslegten, wie sie es im Elternhaus ihres Mannes vorgefunden hatte. Ihre Liebe zu ihm war Grund genug für sie, sich an die strengen Regeln und Sitten zu halten, und sie auch an ihre Kinder weiterzugeben. Aus ihren Erzählungen konnte man die Ambivalenz, die das Leben als erfolgreiche Kaufmannsfamilie und gleichzeitig ultraorthodoxe Juden mit sich brachte, spürbar nachvollziehen.
Wir waren längst beim Kaffee angekommen, als Bernd die Frage stellte, die ihn besonders beschäftigte, und worüber wir in den letzten Tagen lange diskutiert hatten, ob er sie direkt bei unserem ersten Zusammentreffen stellen konnte.
»Judith, ich, beziehungsweise wir, Irene und ich verstehen nicht, was unsere Tochter bewogen hat, zum Judentum überzutreten. Weißt du etwas darüber?«. Nun war die Frage gestellt, und ich versuchte, in Judiths Gesicht eine Regung zu erkennen.
»Unsere Kinder machen leider nicht immer das, was wir von ihnen erwarten. Bei manchen Dingen muss man sich fügen, da hat die Natur eine andere Disposition für sie vorgesehen als unsere Traditionen«, antwortete Judith. Worauf wollte sie hinaus, was hatte das mit Katharinas Übertritt zum Judentum zu tun?
»Wir sind davon ausgegangen, dass alle unsere Söhne früh heiraten, große Familien gründen und in der Firma mitarbeiten«, fuhr Judith fort. »Als Eli in der Pubertät war, wurde mir schnell klar, dass er keine Familie gründen würde. Ich habe sehr lange gebraucht, um meinen Mann davon zu überzeugen, dass Elis Veranlagung gottgewollt ist. Dass wir unseren Sohn so annehmen müssen, wie der Herr ihn uns geschenkt hat.« Allmählich begann ich zu verstehen, welche Richtung das Gespräch nehmen würde. Bernds Gesichtsausdruck konnte ich entnehmen, dass er nicht verstand, worauf Judith hinauswollte.
»Als Moshe darauf beharrte, Journalismus zu studieren, statt in das Familienunternehmen einzutreten, hat Chaim wochenlang kein Wort mehr mit ihm gesprochen. Die Atmosphäre im Haus war zum Schneiden. Aber Moshe und Chaim, und auch Moshes Zwillingsbruder Erez, haben den gleichen Dickkopf. Ihr kennt sicher auch diese väterlichen Autoritätssprüche: „solange du deine Füße…“«, mehr sagte Judith nicht. Sie trank einen Schluck Kaffee und schaute versonnen übers Meer.
»Moshe hat sich also durchgesetzt. Ein weiteres Kind, was nicht nach den Vorstellungen der Eltern geraten ist«, bemerkte ich.
»Ja, und dann bringt uns Moshe eine Schickse als zukünftige Schwiegertochter ins Haus«, Judith seufzte.
»Schickse, meine Tochter ist doch keine Schickse«, mokierte sich Bernd.
»Schickse ist kein Schimpfwort, so bezeichnen orthodoxe Juden jede Frau, die nicht jüdischen Glaubens ist«, erklärte Eli ihm. Daraufhin beruhigte Bernd sich, vor allem, nachdem Judith uns erzählt hatte, wie schwierig es sein konnte, sich in
die Riten und Gebräuche einzufinden, wenn man sie nicht von klein auf vermittelt bekommen hatte.
»Katharina war ein sehr sensibler Mensch. Sie hat die Spannung, die in der Luft lag, sofort gespürt und erahnt, was der Auslöser war. Von Moshe wusste sie, wie Chaim sich gegen dessen Willen, Journalist zu werden, gewehrt hatte. Ihr war Religion egal. Das hat sie mir anvertraut. Sie konvertierte, damit es nicht zu einem neuerlichen Bruch zwischen Moshe und seinem Vater kam«, beendete Judith ihre Erklärung.
»Ich war gekränkt, dass sie unsere Abmachung verraten hat. Sie sollte doch meine Praxis übernehmen«, ließ Bernd sich vernehmen.
»Es sollte nicht sein. Beide sind tot, aber sie leben in Michael weiter.« Josef war es, der die melancholische Stimmung, von der wir alle erfasst waren, mit diesen nüchternen Worten durchbrach.
»Markus und ich setzen alles daran, Michael gute Väter zu sein, und ihn zu einem rechtschaffenen Menschen zu erziehen. Irene und Bernd sind liebevolle Großeltern, und wir wünschen uns nichts sehnsüchtiger, als das Michael in euch ebenso liebevolle Großeltern hat.«
»Meine Liebe ist ihm schon lange gewiss«, sagte Judith und öffnete das diamantbesetzte Medaillon, in dem Michaels, zur Miniatur verkleinertem Foto,
zum Vorschein kam.
»Habt ihr Michael…«, Judith stockte, fuhr dann fort: »ist Michael Christ?«
»Michael ist nicht getauft. Noch nicht«, beantwortete Markus Judiths Frage.
»Gemäß seiner Geburtsurkunde ist er Israeli und Jude. Die deutsche Staatsbürgerschaft hat er ebenfalls, da seine Mutter Deutsche war. Wir haben uns bewusst gegen eine Taufe entschieden. Wenn Michael alt genug ist, um zu begreifen, worin sich die einzelnen Religionen unterscheiden, soll er selbst entscheiden, ob er als Jude, Christ, Moslem oder Atheist leben will.«
»Das wird Chaim nicht gefallen. Du bist mit deiner liberalen Einstellung Lichtjahre von der Seinen entfernt. Er würde jetzt argumentieren, wie Michael seinen jüdischen Glauben leben soll, wenn er nicht darin unterrichtet und entsprechend erzogen wurde. Du bist deiner Schwester sehr ähnlich, so wie auch Moshe und Erez als Zwillinge ein Herz und eine Seele sind«, sagte Judith zu Markus. »Ich werde noch lange und mit viel Fingerspitzengefühl auf Chaim einreden müssen, bis er sich damit abfindet, dass Michael von euch beiden erzogen wird. Aber ich verspreche euch, dass ich mein Möglichstes tun werde.« Nichts anderes hatte ich erwartet.
Im Laufe des Nachmittages ließ das Fremdeln bei Michael nach, so dass Judith ihn auch mal umarmen konnte, was sie sehr glücklich machte, wie ich in ihren Augen lesen konnte.
Der Nachmittag ging schneller vorüber, als wir es erwartet hatten, und bald befanden wir uns auf der Rückfahrt nach Pissouri.
Eli und Judith blieben leider nur bis zum Sonntag, viel zu kurz für Judith, um ihren Enkel besser kennenzulernen. Wir trafen uns täglich, mal im Hylatio, mal im Elysium, wobei wir auch einige Ausflüge zu den Sehenswürdigkeiten machten, damit Judith Fotos schießen und sich einen Überblick verschaffen konnte. Sie musste darauf vorbereitet sein, Chaims Fragen zu beantworten, der sicher von ihr würde wissen wollen, was sie sich alles angesehen hatte.
So besichtigten wir Koúrion, die neben Páfos spektakulärste archäologische Stätte im griechischen Teil Zyperns, wo neben der 30 Zimmer Villa des Eustolios, mit den verschwenderischen Bodenmosaiken, das antike Theater besonders hervorstach.
Im archäologischen Park in Páfos bewunderten wir die auf das dritte Jahrhundert nach Christus datierten Mosaiken im Haus des Dionysos, wo im Raum Acht das Bodenmosaik Zeus darstellt, der an Ganymed, dem außergewöhnlich schönen Sohn eines trojanischen Königs, Gefallen gefunden hat, und in Gestalt eines Adlers, diesen auf den Olymp entführt.
Judith und Eli machten jede Menge Fotos, wobei Judith mit zwei Kameras hantierte und sorgsam darauf achtete, bei Aufnahmen, auf denen Michael zu sehen war, den richtigen Apparat zu verwenden.
Sie wollte möglichst viele Fotos von Michael haben, die sie in ihren privaten Unterlagen verwahren würde. So gab es offizielle und inoffizielle Fotos. Die offiziellen waren vor allem für Chaim und die restliche Familie gedacht.
Als wir uns von Judith und Eli am Sonntagnachmittag verabschieden mussten, ihr Flug ging am frühen Abend, hatten wir das Gefühl, Judith schon seit Ewigkeiten zu kennen. Trotz der kulturellen Unterschiede standen wir uns sehr nahe. Michael, unser aller Sonnenschein, hatte auch ihr Herz im Sturm erobert. Ich war mir sicher, dass sie nichts unversucht lassen, und so lange keine Ruhe geben würde, bis Michaels anderer Großvater die Dinge so akzeptierte, wie sie nun einmal waren.
»Ihr beide seht ganz schön müde aus«, sagte Bernd zu unseren Söhnen, als wir am Abend zu Tisch saßen. Gegenüber Freunden und Bekannten hatten wir es uns schon seit längerer Zeit angewöhnt, Josef als Sohn zu bezeichnen. Unsere Freunde wussten um das Verhältnis der beiden, und entfernteren Bekannten auseinanderzuklamüsern, wie die zwei verbandelt waren, hielten wir nicht für nötig.
»Kein Wunder«, lachte Bernd, »schwimm du mal nachts drei Runden um den Aphrodite Felsen.«
»Nur unserer ewigen Liebe wegen«, stimmte Markus ein. Sie hatten wohl auch beide im Reiseführer die Passage über Riten in Vollmondnächten gelesen.
Josef musste leider schon an dem darauffolgenden Dienstag zurückfliegen. Uns vieren blieb noch die restliche Zeit bis zum Samstag. Zeit, die wir damit verbrachten, zumeist faul am Strand zu liegen.
Kapitel 19 – Josef
Meinen Vierzigsten feierten wir nur im kleinen Kreis. Da er auf einen Arbeitstag mitten in der Woche fiel, beschränkten wir uns darauf, abends essen zu gehen. Erst am folgenden Wochenende gab es eine kleine Feier mit den engsten Freunden, meinen Angestellten sowie engsten Geschäftspartnern und natürlich Markus Eltern, die nun zum letzten Mal in einem Hotel übernachten mussten. Wir hatten sie in der Post untergebracht, die einzig größere Gaststätte im Ort, die auch über Fremdenzimmer verfügte. Nur mein Vater fehlte, was mir während des ganzen Trubels schmerzhaft bewusst wurde. Seine Demenz schritt so rasch voran, dass ich bei jedem Besuch damit rechnen musste, dass er mich nicht mehr erkennen würde.
Die größte Überraschung an diesem Samstagabend machten mir die beiden Schreinermeister, denen ich vor einigen Monaten versucht hatte, die Vorteile einer Kooperative schmackhaft zu machen. Sie hätten beide gründlich nachgedacht, Vor- und Nachteile abgewogen und seien zu dem Ergebnis gekommen, dass so eine Zusammenarbeit mehr Vorteile als Nachteile mit sich bringen würde. Beide keine großen Redner vor dem Herrn, zudem schon mit einigen Maß Bier intus, verhaspelten sich bei ihrer Rede, die sie gemeinsam vortrugen, mehrfach.
»Mein Gott Josef«, flüsterte Markus mir ins Ohr, «deine Wünsche scheinen schneller in Erfüllung zu gehen, als du dir das vorgestellt hast.« Hoffentlich behielt Markus recht, und die beiden erinnerten sich auch noch am kommenden Tag daran, was sie gerade so vollmundig kundgetan hatten.
Das schönste Geschenk, an dem sich auch Irene und Bernd beteiligten, erhielt ich von Markus; eine Reise nach Wien, über Silvester, inklusive Karten für den Besuch der Fledermaus in der Wiener Oper und anschließendem Besuch der Sacher Stube. Die Idee mit den Karten für die Oper stammte von Irene. Die Sacher Stube war auf Markus Mist gewachsen. Das erzählte er mir, nachdem wir sehr spät in der Nacht endlich in unser Bett gefunden hatten.
»Ich habe ein schnuckliges Hotel für uns gefunden«, strahlte er mich an, «direkt in der Nähe des Stephan Doms, unweit vom Kaiser Bründl«.
»Möchtest du am ersten Januar zum Gottesdienst in den Dom, oder warum erwähnst du die besondere Lage des Hotels?«, wollte ich wissen.
»Ich dachte viel eher daran, dass wir uns am zweiten Januar einen entspannten Nachmittag im Kaiser Bründl gönnen«, flüsterte Markus mir ins Ohr.
Da ich darauf nicht weiter reagierte, fragte Markus, ob ich denn nicht wisse, um was es sich bei dem Kaiser-Bründl handele.
»Kaiser ist klar, und Bründl kann ja nur von Brunnen abgeleitet sein. Also nehme ich an, dass es sich um ein Thermalbad handelt, wobei ich allerdings nicht weiß, woher die Wiener eine Therme hernehmen wollen«, beantwortete ich Markus Frage.
»Fast richtig, bis auf die Therme. Es ist eine Sauna, um nicht zu sagen, die Gay-Sauna in Wien, in der man gewesen sein muss. Und nicht nur wegen des Jugendstils«, klärte Markus mich auf.
Das schien mir ein Zeichen zu sein, dass es Markus allmählich besser ging. Wir hatten eine lange Phase hinter uns, in der der Sex keine Rolle mehr zu spielen schien. Wenn Markus nun den Besuch eines solchen Lusttempels in Erwägung zog, würde dies sicher auch zu Intimitäten führen.
Geschockt war ich einige Tage später, als ich von Jürgen, einem der beiden Schreinermeister, mit denen ich im Begriff war, die Kooperative zu gründen, erfuhr, dass die Freundin seines Mitarbeiters Kevin bei dem Bombenanschlag in Kuta ums Leben gekommen war. Kevin war schwerverletzt von der australischen Luftwaffe ausgeflogen worden und lag nun in einer Klinik in Darwin. Ich kannte Kevin gut, schätzte seine Arbeit sehr und wusste, dass er und seine Freundin lange gespart hatten, um sich diesen Traumurlaub, bei dem er ihr einen Heiratsantrag machen wollte, leisten zu können.
Bali, die Trauminsel in indischen Ozean, keine zwei Flugstunden vom australischen Perth entfernt gelegen, war am zwölften Oktober in die Schlagzeilen geraten, als ein Selbstmordattentäter sich, um kurz nach dreiundzwanzig Uhr in Paddys Bar, in die Luft sprengte. Knappe zehn bis fünfzehn Sekunden später hatte es vor dem Sari Club eine zweite Explosion gegeben, als ein Van per Fernzündung in die Luft gesprengt wurde. Im Fernsehen wurden Bilder von der Verwüstung gezeigt. Keiner von uns hatte beim Anblick dieser schrecklichen Bilder daran gedacht, dass Kevin und Bianca dort gerade ihren Urlaub verbrachten.
Nun war das Grauen, hinter dem man die islamistische Organisation Jemaah Islamiyah (JI) vermutete, und ihr Verbindungen zu Al-Qaida, einem losen, weltweit operierenden, terroristischen Netzwerk, meist sunnitisch-islamistischer Gruppierungen, nachgesagt wurden, auch in unserem beschaulichen Deining angekommen. Zweihundertzwei Tote, und Bianca war eine von ihnen.
Die Mehrzahl der Toten waren Australier, die zu den zahlreichsten Besuchern Balis zählten und von Al-Qaida als Steigbügelhalter der USA angesehen wurden, die nach dem Desaster vom elften September 2001 einen Krieg gegen den Terror führten, wie George W. Bush die Antiterrormaßnahmen bezeichnete.
1984, nach mehreren Flugzeugattentaten und dem Anschlag auf die internationalen Friedenstruppen in Beirut, hatte Präsident Ronald Reagan erstmals diesen Begriff gebraucht. Zusammengefasst wurden darunter Maßnahmen der US-Regiering im Nahen Osten und in Afrika. Zuvor hatte, im Zusammenhang mit der Entführung der Lufthansa Boeing „Landshut“ nach Mogadischu, das Time Magazin 1977 diesen Begriff verwendet.
Dieser Oktober war von Gewalt geprägt. Etwa vierzig bis fünfzig bewaffnete Personen, die sich der Tschetschenischen Separatistengruppe zuordneten, hatten am dreiundzwanzigsten das Moskauer Dubrowka-Theater während einer Vorstellung gestürmt und achthundertfünfzig Personen in ihre Gewalt gebracht.
Der Anführer, Mowsar Barajew, ein Neffe des getöteten tschetschenischen Milizkommandanten Arbi Barajew, forderte den sofortigen Rückzug der russischen Truppen aus Tschetschenien. Allen, die einen ausländischen Pass vorweisen konnten, bot er die sofortige Freilassung an, was von den russischen Unterhändlern abgelehnt wurde. Sie verlangten die Freilassung sämtlicher Geiseln.
Am Morgen des Sechsundzwanzigsten pumpten Spezialeinheiten des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB unbekannte Chemikalien in die Belüftungsanlage und stürmten kurze Zeit später das Theater. Die betäubten Terroristen wurden an Ort und Stelle von den Spezialeinheiten getötet. Von den einhundertdreißig getöteten Geiseln starben fünf durch die Hand der Geiselnehmer, einhundertfünfundzwanzig aufgrund unzureichend medizinischer Behandlung an den Folgen des Gaseinsatzes.
Aber der Herbst hielt auch eine äußerst positive Überraschung für uns bereit, besser gesagt für Markus.
Er hatte sein Manuskript über das Eisenbahnwesen in der indischen Provinz Kerala zu Ende geschrieben und auf der Suche nach geeignetem Fotomaterial ein Exemplar davon an das indische Fremdenverkehrsbüro nach Frankfurt geschickt. Auf welche Weise dieses Exemplar seinen Weg zur indischen Botschaft in Berlin fand, wusste Markus nicht, das war auch völlig nebensächlich. Jedenfalls kam Mitte November ein Schreiben, eines für den Fremdenverkehr zuständigen Attachés, indem er seine Bewunderung über das Manuskript ausdrückte, und dem er auch die von Markus erbetenen Fotos beigelegt hatte. Die große Überraschung war die Anfrage, ob Markus über Kapazitäten verfügen würde, um Bücher über weitere Bahnstrecken auf dem indischen Subkontinent zu verfassen. Außerdem bat man ihn darum, sein Manuskript, sowohl in die englische als auch in verschiedene indische Sprachen übersetzen und publizieren zu dürfen.
»Dabei ist es nicht einmal auf Deutsch erschienen«, sagte Markus mit stolzgeschwellter Brust.
»Hast du es denn einem Verlag zugeschickt?«, wollte ich wissen, wusste die Antwort aber schon, kaum dass ich den Satz gesagt hatte. Konnte er ja nicht gemacht haben, ihm fehlten ja die geeigneten Fotos, die zahlreich, sowohl schwarzweiß als auch farbig, auf seinem Schreibtisch lagen, der nun das komplett neu eingerichtete Büro beherrschte.
»Wieso haben sie dir nicht angeboten, das Buch auch in deutscher Sprache zu publizieren?«, wollte ich von Markus wissen.
»Ich kann mir denken warum«, sagte Markus und griff nach dem Ordner, in dem er wohl seine Korrespondenz aufbewahrte.
»Unglückliche Formulierung, sieh selbst«, Markus hielt mir die Kopie des Briefes an das Fremdenverkehrsbüro unter die Nase. …benötige ich für die Veröffentlichung bei meinem deutschen Verlag…, las ich. Damit war klar, warum die Inder ihm das nicht angeboten hatten.
Wie nicht anders von Markus zu erwarten war, rief er am nächsten Tag in Berlin an. Zwei Stunden, so berichtete er mir, hatte er mit dem Attaché gesprochen, und dieser hatte ihn nach Berlin eingeladen, um die Einzelheiten zu besprechen.
Mitte Dezember war Markus für zwei Tage nach Berlin geflogen, und als er wieder zuhause war, hatte er den Vertrag unter Dach und Fach. Das Amt für Tourismus in Neu Dehli würde fortan für die Publikationen zuständig sein, Markus brauchte sich um Druck und Verlag nicht weiter zu kümmern, er brauchte nur noch die Tantiemen einzustreichen.
Unser Sonnenschein bescherte uns natürlich die glücklichsten Stunden. Michaels Wortschatz wurde immer größer, und er redete immerzu. Das meiste war noch nicht zu verstehen, aber es war jetzt schon klar, dass er ein sehr kommunikativer Mensch war. Er war der Extrovertierte, würde nie zu den Introvertierten gehören, soviel stand bereits, mit seinen nahezu zwei Jahren, definitiv fest.
Kapitel 20 – Markus
Wir saßen an diesem Sonntagmorgen an unserem Esstisch beim Frühstück, ich mit Michael auf dem Schoß, der zum gefühlten tausendsten Mal sein Lieblingsbuch vorgelesen haben wollte, Josef in seine Zeitung vertieft, hinter der er von Zeit zu Zeit Kommentare verlauten ließ.
»Stell dir vor, die Amis bombardieren offenbar einfach wild drauf los, nach dem Motto, irgendwann kriegen wir den Sauhund schon«, ließ er sich vernehmen.
»Zum Glück ist Schröder standhaft geblieben, und unsere Jungs müssen da nicht auch dort noch ihre Köpfe hinhalten«, sagte ich. Michael, der wollte, dass ich ihm weiter vorlas, quengelte. Ich gab ihm einen Kuss auf seinen Kopf und beschied ihm, dass er sich jetzt mal allein unterhalten musste, der Papa müsse den Tisch abräumen.
»Lass mal, das mache ich schon«, sagte Josef und legte die Zeitung zur Seite.
»Hoffentlich finden sie ihn bald und bombardieren nicht den halben Irak in Schutt und Asche«, bei der Erinnerung an die Bilder, die CNN seit Beginn der Bodenoffensive fast pausenlos rund um die Uhr ausstrahlte, bekam ich Magendrücken.
»Dafür wird schon die amerikanische Rüstungsindustrie sorgen«, bemerkte Josef. »Die müssen doch sicherstellen, dass genügend Waffenmaterial verheizt wird, damit sie neues produzieren können. Davon leben sie ja schließlich und nicht schlecht, wie man sich ausrechnen kann, auch ohne Gauß zu heißen.« Ich musste grinsen. Josef liebte es, bei seinen Bemerkungen, Anspielungen auf Wissenschaftler zu machen, vor allem, wenn er davon ausgehen konnte, dass die meisten Leute nie von denen gehört hatten.
»Den Hinweis auf Gauß hättest du dir bei mir sparen können, ich weiß, dass Johann Carl Friedrich Gauß bereits zu seinen Lebzeiten als Princeps Mathematicorum galt«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen. Michael quengelte nun heftiger.
»Hallo junger Mann, du holst dir jetzt mal deine Wachsmalstifte und den Block und malst was Schönes für Josef«, versuchte ich den kleinen Zappelphilipp zu besänftigen. Tatsächlich kletterte er von meinem Schoß und lief zu seiner Spielkiste, in der er alles verwahrte, was ihm ans Herz gewachsen war. Lange würde es nicht anhalten, aber mit etwas Glück hatten wir eine halbe Stunde Ruhe vor unserem quirligen Sonnenschein.
»Mir tun vor allem die Frauen und die Kinder leid«, sagte ich zu Josef. »Du wirst sehen, das wird wieder eine Flut von Flüchtlingen geben. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass die Türkei sie bereitwillig aufnehmen wird. Die Türken nehmen eher die Gelegenheit wahr, sich der verhassten Kurden zu entledigen.«
Am letzten Donnerstag, dem zwanzigsten März, hatten zeitgleich mit dem Angriff auf den Irak, tausend Soldaten der 82. Luftlande Division der US-Streitkräfte in Afghanistan, in der Nähe von Kandahar, die größte Offensive, seit einem Jahr, gegen die Taliban und Al-Qaida gestartet.
Gestern hatte der Irak mehr als dreißig Ölfelder in Brand gesteckt, und am Abend hatten die USA mit Unterstützung der Briten mit dem Bombardement auf Bagdad begonnen. Dabei war auch der Regierungspalast getroffen worden. Ein Sprecher der Irakis hatte aber verkündet, dass Saddam Hussein und seiner Familie nichts passiert sei. Schon am Donnerstag, um 3:30 Uhr mitteleuropäischer Zeit, hatte man erste Marschflugkörper auf Bagdad niedergehen lassen, dabei das Regierungsviertel aber verfehlt. Im Vorfeld des Irakkrieges war es weltweit zu Massendemonstrationen gekommen. Das Verhältnis zwischen den USA und Deutschland war angespannt. Am achten Februar hatte Bundesaußenminister Joschka Fischer bei der Friedenskonferenz in München, mit den Worten „I am not convinced“, die mangelnde Bereitschaft der Bundesrepublik, die USA bei ihrer geplanten Invasion zu unterstützen, begründet.
Am dreizehnten März war es bei einer UN-Vollversammlung wegen des Irakkonfliktes zum offenen Bruch zwischen Frankreich und den USA gekommen. Damit war klar, dass es für die, von den USA, zusammen mit Großbritannien und Spanien, eingebrachte neue Kriegs-Resolution keine Mehrheit geben würde.
Diese ersten drei Monaten des Jahres 2003 waren sehr turbulent. Während Abertausende gegen einen neuen Krieg auf die Straße gingen, gossen die amerikanischen Kriegstreiber ständig Öl ins Feuer. Und nun brannte der Irak.
Wie angenehm war dagegen das letzte Jahr zu Ende gegangen. Mitte Dezember waren unsere Umbaumaßnahmen abgeschlossen, und als letztes Zimmer hatten wir, kurz vor Weihnachten, das Gästezimmer möbliert, in dem meine Eltern, während ihres Besuches über Weihnachten, unsere ersten Übernachtungsgäste waren.
Meinen Besuch in Berlin, zu dem mich der indische Tourismus Attaché eingeladen hatte, werde ich wohl nie mehr vergessen. Der etwa fünfzigjährige, der sich mir als Mahatma Chandra vorstellte, war selbst Eisenbahnenthusiast und von meinem Manuskript über die Kerala Bahn so begeistert, als habe er nie zuvor etwas Vergleichbares gelesen. Mittels der mir vom indischen Verkehrsbüro in Frankfurt überlassenen Fotos, war ich in der Lage gewesen, das bestehende Manuskript um vierzig bebilderte Seiten zu erweitern. Mein Eisenbahnenthusiast war sehr erstaunt, als er erfuhr, dass ich noch nie Indien bereist und alle Angaben vom Schreibtisch aus recherchiert hatte. Indien, so erklärte er mir, wolle in den kommenden Jahren viel in den Tourismus investieren, um Touristen aus Europa, den Staaten und Kanada ins Land zu locken. Außer den prächtigen Palästen diverser Maharadschas verfüge sein Land über mehr als siebzehntausend Kilometer Küste, die sich größtenteils touristisch nutzen ließ, und natürlich über bedeutende Berge, darunter einunddreißig Siebentausender und mit dem 8586 Meter hohen Kangchenjunga, wenigstens auch einen Achttausender. Über die Berge sei schon sehr viel geschrieben worden, auch über einige der Paläste, wobei natürlich der Taj Mahal am Südufer des Flusses Yuma, am Stadtrand von Agra gelegen, wohl das bekannteste sei, wenngleich es sich nicht um einen Palast, sondern um das Mausoleum, der im Jahre 1631 verstorbenen Mumtaz Mahal handelt, der großen Liebe des muslimischen Großmoguls Shah Janan.
»Aber über unsere Eisenbahnen gibt es nicht sehr viel und wenn, dann häufig nur Technisches«, berichtete Herr Chandra. »Wir möchten die Touristen dazu ermutigen, auch das Landesinnere zu erkunden, nicht nur die Hot Spots zu besuchen. Da können so lebendige Bücher, wie das ihre zu werden verspricht, sehr dazu beitragen, Herr Mendel.« Ich wusste ja schon von unserem Telefonat, dass man noch mehr Bücher von mir haben wollte und wartete, welches Angebot er mir machen würde.
Mein Erstlingswerk wollten sie nicht nur als Taschenbuch, so wie ich es vorgesehen hatte, sondern auch als Bildband herausbringen. Der Bildband sollte noch etwas umfangreicher sein, wofür mir Herr Chandra umfassendes Fotomaterial zusagte. Beide Bücher sollten in deutscher, englischer, französischer und spanischer Sprache, sowie einigen asiatischen Sprachen, darunter Japanisch und Chinesisch erscheinen. Aus meinem einst als bescheidenen Beitrag für ein Reisemagazin geplanten Bericht würde ein Mammutwerk werden. Auch die Vergütung konnte sich sehen lassen, bot man mir doch vierzig Prozent des Erlöses an. Die Bücher würden bevorzugt über die indischen Fremdenverkehrsbüros beworben und vertrieben werden, sollten aber auch über den Buchhandel bezogen werden können. Das hörte sich für mich wie ein Märchen aus Tausend und einer Nacht an.
Dann unterbreitete mir Herr Chandra ein Angebot, das alle Möglichkeiten, die ich mir vorgestellt hatte, weit in den Schatten stellte.
Ich sollte ein Buch über die Indian Railways schreiben, auch wieder als Bildband. Damit ich mir ein Bild von diesem gigantischen Unternehmen machen konnte, schlug er mir vor, mich vor Ort kundig zu machen. Die Reisekosten würden übernommen werden, ich bekäme Zutritt zu allen Lokalitäten, und Führerstandsmitfahrten seien selbstverständlich möglich.
Als ich ihm sagte, dass ich mich sehr geehrt fühle, aber ein kleines Kind zu versorgen hätte, und zunächst einmal abklären müsse, wie ich Michaels Versorgung während einer längeren Reise gemanagt bekäme, tauchte die berechtigte Frage nach Michaels Mutter auf. Da ich unsere, nicht nur für einen Inder, wie liberal er auch immer sein mochte, etwas ungewöhnliche Familienkonstellation nicht erklären wollte, beließ ich es dabei, ihm zu sagen, dass Michaels Mutter gestorben sei. Herr Chandra drückte sein Bedauern darüber aus und vertiefte das Thema dann auch nicht weiter.
Diese neue Entwicklung war Weinachten ein großes Thema. Josef hatte ich, nach meiner Rückkehr aus Berlin, nicht die ganze Geschichte erzählt. Von der Einladung nach Indien wusste er noch nichts.
Meine Mutter war skeptisch, meinte, ich solle darauf achten, mich nicht zu übernehmen. Mein Vater hingegen war Feuer und Flamme. Auch Josef sicherte mir sofort seine Unterstützung zu. Als wir über Silvester und Neujahr in Wien waren, hatten wir Zeit, uns ausführlicher damit auseinanderzusetzten.
Wien war einfach herrlich. Wir genossen es, einmal Zeit für uns zu haben, saßen tagsüber in den fantastischen Kaffeehäusern, suchten uns abends nette Lokale in der Nähe unseres Hotels und nachts die Nähe zueinander, wo wir bei unseren Intimitäten nicht damit rechnen mussten, von Michaels Rufen oder Besuchen gestört zu werden.
Die Aufführung der Fledermaus war grandios. Josef, sonst kein großer Fan „schwerer Kost“, wie er klassische Musik gerne nannte, war mehr als begeistert. Vor allem Angelika Kirchschlager, die den Prinzen Orlofsky sang, hatte es ihm angetan. Zukünftig, so hoffte ich insgeheim, würde ich ihn auch mal zum Besuch einer Vorstellung in unserem Nationaltheater bewegen können. Es musste ja nicht gleich Don Carlos oder Wagners Ring sein.
Wenn ich gehofft hatte, dass wir in den Sacher Stuben bis in die frühen Morgenstunden in das neue Jahr hineinfeiern könnten, so wurde ich enttäuscht. Bereits um halb eins, kaum dass das Feuerwerk seinen Höhepunkt erreicht hatte, kam der Ober, um abzukassieren, man wolle Feierabend machen. Bei einem Haus mit diesem Renommee hätte ich so etwas nicht erwartet. Wir waren halt nicht im Sacher, wo wir bis in die Puppen hätten weiter feiern können, sondern nur in den etwas preiswerteren Sacher Stuben.
Der frühe Rausschmiss hatte aber auch einen Vorteil, bekamen wir dadurch doch auch von dem Trubel auf den Straßen etwas mit. Außerdem landeten wir zu vorgerückter Stunde, in der Nähe des Naschmarktes, in einem schwulen Lokal, wo die Stimmung sehr ausgelassen war, und selbst ich nicht widerstehen konnte, das Tanzbein zu schwingen.
Kapitel 21 – Bernd
Mit Michaels Hilfe bemalte ich Ostereier, wobei seine Unterstützung im Wesentlichen darin bestand, die Farbe auf dem Tisch zu verteilen. Seit fast zwei Wochen war Michael bei uns, während Markus sich auf einer Indienreise befand und Josef so in das neue Projekt eingespannt war, dass er sich unmöglich allein um unsren Enkel kümmern konnte.
Übermorgen war Karfreitag, da würde Markus am frühen Nachmittag, aus Neu Dehli kommend, in Frankfurt landen und Josef, wenn alles gut lief, schon da sein. Am Ostermontag würde die kleine Familie wieder nach Hause fahren, dann waren die zwei Wochen, in denen ich mich um Michael gekümmert hatte, vorbei. Gleich zu Beginn hatte ich mir einen bösen Blick von Markus und Irene eingefangen, als ich beim Anblick des Pampersberges die Frage nicht verkneifen konnte, ob Michael immer noch nicht stubenrein sei. Frühestens im Alter von etwa drei Jahren sei damit zu rechnen, wurde ich von den beiden belehrt, es könnten aber auch durchaus fünf Jahre werden, bevor ein Kleinkind trocken sei. Im Übrigen würde man bei Menschen nicht von stubenrein sprechen, hatte Markus noch hinzugefügt. Einzig Josef war mir beigestanden, hatte er doch den Joke verstanden.
Eigentlich wollten wir heute am frühen Nachmittag die Einkäufe für Ostern erledigen, aber Irene hatte vor gut einer Stunde angerufen und angekündigt, dass sie die Praxis wohl nicht pünktlich würden schließen können. Beunruhigt durch die sich häufenden SARS-Erkrankungen, die sich mittlerweile auch in Europa ausweiteten, strömten die Patienten nur so in die Praxis. Dabei hatten die meisten nicht mal einen richtigen Husten, von Atemnot ganz zu schweigen. Bereits am zweiten April hatte die WHO in Genf, erstmals in ihrer Geschichte, vor Reisen in eine nicht vom Krieg betroffene Region gewarnt und riet von Reisen in die chinesische Provinz Guangdong sowie in die Sonderverwaltungszone Hongkong ab. Am Neunten hatte die Schweizer Fluggesellschaft Swissair, aufgrund des Ausbreitens des Schweren Akuten Atemwegssyndroms, bis auf Weiteres, sämtliche Flüge nach Tokio gestrichen. Am letzten Sonntag hatte eine internationale Forschergruppe das Genom des Coronavirus-Typs, den man als Ursache dieser Atemwegserkrankungen vermutete, entschlüsselt. Dieses Virus hätte man nicht auch noch gebraucht. Die andauernden Nachrichten aus dem Irak waren schon beunruhigend genug.
Im dritten Golfkrieg hatte man mittlerweile das Zentrum Bagdads in Schutt und Asche gebombt. Britische Truppen hatten, nach heftigen Gefechten, die fünfzehn Kilometer von Basra entfernt liegende Großstadt Zubair unter ihre Kontrolle gebracht. Der Krieg weitete sich, trotz anhaltender Proteste, immer weiter aus. US-Außenminister Collin Powell und der türkische Ministerpräsident Abdullah Gül hatten die logistische Unterstützung der US-Streitkräfte im Nordirak, durch die Türkei, unterzeichnet. Mir schwante Schlimmes, als ich das in der Zeitung las. Ein gefundenes Fressen für die Türken, um Jagd auf die verhassten Kurden zu machen.
In Bern hatte der Schweizer Bundesrat beschlossen, sämtliche, für irakische Kunden geführte Konten zu sperren. Damit war der irakischen Elite zumindest der Zugriff auf ihres in der Schweiz gebunkerten Geldes verwehrt. Weder von amerikanischen, britischen oder spanischen Banken hörte man Entsprechendes.
Während die Amerikaner weiterhin erfolglos Jagd auf Saddam Hussein machten, hatte das irakische Fernsehen einen Beitrag ausgestrahlt, in dem dieser, beim Besuch eines zerstörten Stadtteils Bagdads, gezeigt wurde, wobei er die Bevölkerung zum Widerstand aufrief.
Irene kam tatsächlich sehr spät und fuhr dann auch allein zum Einkaufen, da es sonst für Michael zu spät geworden wäre. Wir versuchten den Rhythmus mit den Mahlzeiten möglichst genau so einzuhalten, wie er das von zuhause gewohnt war. Während Irene den Supermarkt plünderte, anders konnte man die Mengen, die sie nach Hause brachte, nicht bezeichnen, hatte ich uns einen Nudelauflauf gemacht, etwas von dem wir sicher sein konnten, dass es auch Michael schmeckte.
Nach dem Abendessen, als Michael nach einer Runde Vorlesen endlich schlief, und wir uns die Nachrichten angesehen hatten, öffnete Irene den Brief, der heute aus Tel Aviv angekommen war.
»Was schreibt Eli?«, wollte ich wissen, während ich das Foto betrachtete, dass dem Brief beilag, von dem Eli und Josh, gutgelaunt und fröhlich grinsend, mir entgegen blickten.
»Sein Vater hat das Foto entdeckt, das Eli in Koúrion geschossen hat. Du weißt schon, dieses, worauf Michael auf Judith zuläuft.«
»Und, wie hat er reagiert?« Ich legte das Foto zur Seite und wartete darauf, dass Irene meine Frage beantworten würde. Erst nachdem sie den Brief zu Ende gelesen hatte, erfuhr ich, dass Judith nicht den Mut aufgebracht hatte, Chaim Weizmann zu gestehen, dass es sich bei dem Kind um seinen Enkel handelt. Stattdessen hatte sie ihm etwas von einem Zufallsfoto erzählt. Gerade als Eli den Auslöser betätigte, hätte sich der Junge von der Hand seiner Mutter losgerissen und sei auf sie zu gerannt.
»Judith hat uns auch ein paar Zeilen geschrieben, hier lies selbst«, Irene drückte mir ein dünnes Blatt Luftpostpapier in die Hand.
„… leider immer noch nicht erzählen, dass ich unseren Enkel in den Armen gehalten habe. Chaim hegt dazu immer noch zu großen Groll gegen Markus und alle, die ihm geholfen haben, Michael außer Landes zu bringen. Seitdem er die geschäftlichen Probleme bewältigt hat, spricht er wieder häufig davon, dass er alles, was in seiner Macht steht, unternehmen wird, damit Jonathan im Glauben seiner Ahnen erzogen wird.“
»Denkst du das gleiche wie ich?« Irene nickte mit dem Kopf. Sie brauchte nicht zu fragen, was ich meinte. Die nonverbale Konversation hatte zwischen uns beiden nahezu vom ersten Tag an funktioniert.
»Wir müssen es Markus und Josef sagen. Sie müssen die Augen aufsperren und dürfen Michael nicht aus den Augen lassen«, sagte Irene.
»Wie stellst du dir das vor?«, wollte ich von ihr wissen, »Josef ist den ganzen Tag über auf seinen Baustellen unterwegs und Markus mit seinen Projekten beschäftigt. Außerdem soll Michael ja in den Hort, wie ich Josef vor zwei Wochen verstanden habe, als sie uns den Kleinen brachten.«
»Ich halte nichts davon, den Jungen mit nicht einmal drei Jahren, in einen Hort zu geben«. Den Ton, indem Irene das sagte, kannte ich nur zu gut. Das war genau der Ton, indem sie auch ihren renitenten Patienten klar machte, dass sie die, von ihr verordneten, Medikamente zu nehmen hatten.
»Du kennst Markus genauso gut wie ich. Wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann zieht er das durch. Und im Fall des Hortes, glaube ich, steht Josef voll auf seiner Seite, egal, was du davon hältst oder nicht.« An der Art, wie sich Irenes Stirn in Falten legte, konnte ich sehen, dass ihr mein Kommentar nicht gefiel.
Josef hatte Stunden im Stau gestanden. Ein schwerer Verkehrsunfall auf der A8, in Höhe des Aichelbergs, ausgerechnet in dem Bereich, in dem es keinen Standstreifen gibt, hatte zu einer Vollsperrung geführt. Ein heilloses Durcheinander, die Rettungskräfte waren zunächst nicht durchgekommen, der hinzugerufene Helikopter hatte nicht landen können. Josef hatte angerufen und uns gesagt, dass es sehr spät werden könnte.
Markus hatten wir am Nachmittag am Rhein-Main-Flughafen abgeholt. Michael ließ sich kaum noch halten, als Markus mit seinem Gepäck durch die sich öffnende Milchglastür trat, die die Wartehalle vom Gepäckempfang trennt. „Hase“, „Hase“, hatte er immer wieder gerufen, was den Umstehenden ein Lächeln ins Gesicht zauberte, als sie feststellten, dass Michael Markus damit meinte. Während der gesamten Rückfahrt hatte Michael ohne Unterbrechung Markus von seinen Erlebnissen während der letzten beiden Wochen erzählt.
So kam Markus erst zuhause, nachdem er sich geduscht und umgezogen hatte, dazu, uns von seiner Reise zu berichten, und unzählige Fotos zu zeigen, die er mit seiner digitalen Spiegelreflexkamera, dem neuesten Schrei von Kyocera, geschossen hatte. Die sündhaft teure Kamera war Josefs Weihnachtsgeschenk für Markus gewesen.
Michael war dabei nicht von Markus Seite gewichen. Zu sehen, wie die beiden, eng aneinander gekuschelt, auf dem Sofa saßen und Michael an Markus Lippen hing, als dieser Anekdoten zu den Fotos zum Besten gab, versetzte mir einen Stich ins Herz, wenn ich daran dachte, dass Chaim Weizmann nichts unversucht lassen würde, um Michael in seine Obhut zu bringen.
»Wie war es in Dehli?«, wollte Irene von Markus wissen und sah ihn erwartungsvoll an.
»Puh, womit soll ich anfangen«, antwortete Markus, und fing dann an zu erzählen, »heiß, stickig, laut, zum Teil dreckig, alles in allem aber grandios. Wenn man sich erst einmal an die Armut und die vielen Bettler gewöhnt hat, geht es. Schon beim Anflug auf diese gigantische Metropole, mit nahezu zehn Millionen Einwohnern, sieht man das Ausmaß des Elends. Rund zwanzig Prozent der Bevölkerung lebt in Slums. Das ist aber nichts im Vergleich zu Mumbai, ehemals Bombay und Kolkata, wie das einst genannte Kalkutta jetzt heißt, wo rund vierzig Prozent in Slums leben. Krass ist der Gegensatz zwischen Armut und Reichtum. Diese Prunkbauten, das Rote Fort, die Jama Masjid Moschee oder der Hazrat Nizamuddin Dargha, einer der bedeutendsten Schreine des Sufismus und das Humayun Mausoleum, Dehlis erstem Mogul-Grab, mit dessen Bau man 1564, nach dem Tod des Zweiten Moguls, begonnen hat.«
»Ich dachte, du bist wegen des Eisenbahnwesens nach Dehli geflogen«, unterbrach ich Markus Bericht.
»Ja, klar, aber sie wollen ja mittels meiner Bücher Touristen anlocken. Da ist es selbstverständlich, dass ich in den Büchern auch über die Sehenswürdigkeiten schreibe«, klärte Markus mich auf.
»Wo hast du gewohnt?«, wollte Irene wissen.
»Sie hatten mich im Taj Palace untergebracht, einem Fünfsterne Hotel, mitten in einem 2,4 ha großen Garten gelegen. Wieder der Widerspruch. Luxus vom Feinsten, und sobald du das Gelände verlässt, siehst du der nackten Existenz ins Auge.«
»Belastet einen das nicht?« Ich war es, der das Wissen wollte. Markus nickte.
»Klar hat mich das belastet. Dass muss einfach jeden belasten, außer den Indern. Sie sind es gewohnt, kennen es nicht anders, und du darfst nicht vergessen, sie leben dazu auch noch immer in ihrem strengen Kastenwesen.« Markus erhob sich und ging zum Fenster, warf einen Blick nach draußen, schaute dann auf seine Uhr, bevor er sich uns zuwandte und sagte: »ich verstehe nicht, wo Josef bleibt. Er müsste doch längst da sein.« Umso erleichterter war er, als er kurz darauf hörte, wie ein Auto in unsere Einfahrt einbog.
Michael quengelte, als er, nach dem eh schon recht spät eingenommenen Abendessen, ins Bett sollte. Er hatte seine beiden Väter sehr vermisst. War er am Nachmittag nicht von Markus Seite gewichen, so saß er fast die ganze Zeit, seit Josef eingetroffen war, auf dessen Schoß. Nachdem es Markus und Josef gelungen war, den Jungen zu Bett zu bringen, saßen wir bei einem Glas Wein zusammen und hörten uns an, was Josef zu berichten hatte. Er machte schon den ganzen Abend einen geknickten Eindruck, und nun erfuhren wir, dass er am Vormittag, bevor er zu uns aufgebrochen war, einen Besuch bei seinem Vater im Seniorenheim gemacht hatte.
»Papa war total verwirrt, ich glaube, er hat mich überhaupt nicht erkannt. Er erzählte ständig, dass Mama gleich vom Einkaufen zurückkäme«, verzweifelt sah er uns an. Markus versuchte ihn zu trösten und fragte, was denn das Pflegepersonal zu seinem Zustand sagen würde.
»Die Stationsleiterin war nicht da, sie hat über Ostern einige Tage Urlaub genommen. Der Pfleger, mit dem ich sprechen konnte, ist neu und kennt Papa kaum. Er meinte, Papa sei wie immer.« Das also war der Grund für Josefs Niedergeschlagenheit. Und dann musste ich ihm auch noch irgendwie schonend beibringen, dass der alte Weizmann offenbar wieder aktiv wurde, und wir uns Sorgen um Michaels Sicherheit machten. Unter diesen Umständen konnte ich auf die Befindlichkeiten meines Sohnes keine Rücksicht nehmen. Diese unangenehme Nachricht musste er verdauen, auch wenn ich es ihm gerne erspart hätte. Ich konnte Josef einfach nicht allein damit konfrontieren und es ihm überlassen, es Markus schonend beizubringen.
»Deine Mutter hat einen Brief aus Tel Aviv erhalten«, wandte ich mich an Markus. Doch bevor ich noch weitersprechen konnte, sagte Josef schon, dass er wisse, was darinstünde. Eli habe ihn am gestrigen Abend angerufen. Mehr brauchte er auch nicht zu sagen, Markus konnte man förmlich ansehen, wie er sich beherrschen musste, um nicht die Fassung zu verlieren.
»Hört das denn niemals auf?«, stöhnte er. Josef zog ihn in seine Arme.
»Beruhige dich, so schlimm ist es nicht. Elis Vater hat wieder versucht, Jemanden vom Mossad für seine Sache einzuspannen. Die haben aber momentan andere Sorgen, als sich um ein kleines Kind zu kümmern. Eli hat mir erzählt, dass einhundertfünfzig Beamte des Mossad frühzeitig den Dienst quittieren möchten, um gegen die geplante Anhebung des Renteneintrittsalters, von fünfundvierzig auf fünfundfünfzig Jahre, zu protestieren.
Außerdem haben sie alle Hände voll damit zu tun, die Palästinenser in Schach zu halten. Joschka war doch Anfang des Monats in Israel und hat die Regierung aufgefordert, sich für eine Zweistaatenlösung zu erwärmen. Danach hat er sich mit Jassir Arafat und Mahmut Abbas getroffen, um den Friedensprozess im Nahen Osten voranzutreiben.« Das hörte sich zwar wirklich danach an, dass die Jungs vom israelischen Auslandsgeheimdienst Wichtigeres zu tun hatten, als den Wünschen eines Chaim Weizmann nachzukommen, aber wirklich beruhigt waren wir nicht.
Viel zu schnell war das Osterfest vorbei und die junge Familie wieder zurück in Bayern. Am Ostermontag hatte ich Irene zum Essen in den Kaiserhof eingeladen. Als kleines Dankeschön und Entschädigung für die Stunden, die sie wieder in der Küche gestanden hatte, damit es uns gut ging. Während wir uns den zarten Lammrücken auf der Zunge zergehen ließen, formulierte ich den Gedanken, der mir schon seit einigen Tagen durch den Kopf ging.
»Könntest du dir vorstellen, deine Praxis früher als geplant aufzugeben, und nach Bayern zu ziehen?« Ich hatte das Gefühl, als kaue Irene besonders lange auf dem Stück Fleisch herum, dass sie gerade zu sich genommen hatte, als ich die Frage stellte. Schließlich legte sie ihr Besteck bei Seite, tupfte sich mit der Serviette den Mund ab und trank einen Schluck Traubenschorle. Dabei sah sie mich an und nickte leicht mit dem Kopf. Sollte das die Zustimmung sein? Ohne Gegenargument? Das konnte ich mir bei Irene nicht vorstellen.
»Ich kann mir vorstellen, was dir vorschwebt, aber hältst du das für die richtige Lösung?« meinte Irene. Also doch keine Zustimmung.
»Möchtest du dir Vorwürfe machen, nicht alles getan zu haben, um Michael zu schützen, wenn sie ihn doch kidnappen und nach Israel verschleppen?« Eine bessere Argumentation fiel mir nicht ein. Immerhin erreichte ich damit, dass Irene zusagte, darüber nachdenken zu wollen.
Kapitel 22 – Irene Das für die Jahreszeit ungewohnt, konstant warme bis heiße Wetter, dass wir seit Ostern hatten, setzte vor allem meinen Patienten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen sehr zu. Ich hatte so viel zu tun und kam täglich erst weit nach dem offiziellen Ende der Sprechstunde aus der Praxis, so dass ich bislang nicht dazu gekommen war, mir Gedanken über Bernds Ansinnen, die Praxis hier aufzugeben, geschweige denn, mit Dr. Sahdi einmal darüber zu reden. Unsere drei gemeinsamen Sprechstundenhilfen und ihn würde es als erste treffen, wenn ich meine Praxis verkaufte. Ob ein anderer Landarzt gewillt war, unsere drei Perlen zu übernehmen und das Arrangement, was ich mit Dr. Sahdi getroffen hatte, fortzuführen, würde sich zu gegebener Zeit zeigen. Seine internistische und zugleich auf ayurvedische Heilverfahren spezialisierte Praxis, hatte großen Anklang bei unseren Patienten gefunden. Während Bernd früher reine Chemie verordnet hatte, bot Dr. Sahdi zunächst immer eine ayurvedische Heilmethode an. Ghee stand fortan nicht nur als Ersatz für Bratfett, im Kühlschrank vieler unserer Patienten, viele konsumierten auch das mit Gewürzen und Kräutern Angereicherte, frühmorgens, nach einer Tasse warmen Wassers, zur Aufmunterung ihres Darmes.
Sollte ich meine Praxis hier wirklich aufgeben? War Bernds Idee nicht aus einer gefühlten Notlage heraus, entstanden? Ich hatte ihm versprochen darüber nachzudenken und bis jetzt hatte er auch nicht auf eine Entscheidung gedrängt. Dies hing sicher auch damit zusammen, dass aus Bayern beruhigende Nachrichten zu uns drangen. Josef und Markus telefonierten regelmäßig mit Eli und Josh in Tel Aviv, und wussten daher, dass keine unmittelbare Gefahr drohte.
Heute hatten wir es tatsächlich geschafft, die Praxen pünktlich um dreizehn Uhr zu schließen. Vier freie Tage lagen vor uns, da wir, wie in jedem Jahr, den Freitag nach Fronleichnam, als Brückentag nutzten. Jetzt, auf dem Weg zum Supermarkt, gingen mir diese Gedanken durch den Kopf. Morgen würde Dr. Sahdi mit seiner neuen Freundin, zu uns zum Grillen kommen, was in zweierlei Hinsicht eine Herausforderung darstellte. Zum einen mussten wir für die beiden etwas Anderes, als die von uns so geliebten Steaks anbieten, zum anderen musste ich damit rechnen, dass Bernd das Gespräch auf den Praxisverkauf lenken könnte.
Während ich die Einkäufe im Kühlschrank verstaute, erfuhr ich von Bernd, das Markus am Morgen angerufen und von guten Neuigkeiten gesprochen hatte. Um was es sich dabei handelte, erfuhr ich nicht, dass wolle Markus mir selbst sagen, beschied mir mein Mann.
»… nach so langer Zeit, … endlich schwarz auf weiß, ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich wir sind«, tönte Markus Stimme, freudig aufgeregt, an mein Ohr.
»Glückwunsch, dann darfst du dich ab sofort legitim Michaels Papa nennen.«
»Seit vorgestern, um genau zu sein, die Adoptionsurkunde trägt das Tagesstempel vom sechzehnten«, korrigierte mich Markus. »Noch schöner wäre es allerdings, wenn Michael mich Papa und nicht Hase nennen würde.« Hörte ich da eine leichte Resignation in der Stimme meines Sohnes?
»Wie hat Josef denn auf die Neuigkeit reagiert?«, wollte ich wissen.
»Er hat sich gefreut wie ein Schneekönig, vor allem, weil er dachte, es sei etwas mit seinem Vater passiert, als ich mit Michael auf der Baustelle aufkreuzte.« Von der Terrasse hörte ich Bernd rufen. Wenn ich es richtig verstanden hatte, dann war von Verhungern die Rede.
»Markus, wir müssen mal Schluss machen, dein Vater ruft, ich glaube er hat Hunger. Grüße Josef und habt einen schönen Abend. Nochmals Glückwunsch.« Nachdem wir das Gespräch beendet hatten, flüchtete ich zunächst einmal unter die Dusche, bevor ich mich zu Bernd auf die Terrasse begab. Dieser Sommer sollte sich, laut Vorhersage der Metrologen, zu einem Jahrhundertsommer entwickeln.
Bernd hatte zur Feier des Tages eine Flasche Winzersekt geköpft. So gute Neuigkeiten mussten mit einem edlen Tropfen begossen werden.
»Nun ist unser Sohn also Vater, wenn auch kein leiblicher«, bemerkte Bernd, nachdem er das Sektglas nach dem ersten Schluck abgestellt hatte.
»Markus und Josef, sind seit Michaels Geburt Väter«, korrigierte ich Bernd, »sie haben sich von Anfang an vorbildlich verhalten. Vater wird man nicht durch ein Stück Papier, und auch nicht unbedingt dadurch, dass man der Erzeuger ist.«
»Du hast natürlich in Allem recht«, sagte Bernd, während er die Steaks wendete, und ich den Salat mit der Vinaigrette überzog. »Aber sage doch einmal selbst, hättest du das je für möglich gehalten? Als er uns damals eröffnet hat, dass wir von ihm keine Enkelkinder erwarten könnten, dass er sich zu Männern hingezogen fühle.«
Das war eine schwierige Zeit gewesen. Markus mitten in der Pubertät, zum ersten Mal verliebt, unglücklich verliebt, wie sich später herausstellte. Der Angebetete, ein Spielkamerad aus dem Sandkasten, fiel aus allen Wolken, als Markus ihm seine Liebe gestand. Die Freundschaft bekam einen Knacks. Markus schulischen Leistungen waren eine einzige Katastrophe. Bernd hatte bei jeder schlechten Note getobt, ihn eines Tages angebrüllt, ob er außer Weibern nichts anderes mehr im Kopf hätte. „Du hast ja keine Ahnung, was weißt du denn schon…“, hatte Michael genauso laut zurückgebrüllt. Schlussendlich, auf der einen Seite Tränen über Tränen, ein sechzehnjähriges Häufchen Elend, dem ein völlig verdatterter Vater gegenübersaß. So war Michaels Outing. Bernd hatte schwer daran zu kauen. In der Hinsicht war er stockkonservativ. Daran, dass es Michael als Teenager in der Schule ungleich schwerer hatte, dachte er in keiner Sekunde. Ihn beschäftigte viel mehr die Frage, was unsere Patienten denken würden, wenn sie erfuhren, dass der Sohn des Internisten schwul ist. Für mich kam das Outing nicht ganz so unerwartet, ich hatte schon längere Zeit die Vermutung, dass Michael sich zum eigenen Geschlecht hingezogen fühlte. Die Ehrenrunde konnte mittels Nachhilfe abgewendet werden. Bernds Vorbehalte hielten an, bis er Josef kennenlernte. Da wurde ihm wohl erst bewusst, dass die sexuelle Identifizierung nichts mit dem Charakter eines Menschen zu tun hat. Wir redeten an diesem Abend noch sehr lange über unsere Kinder, erinnerten uns an manchen Streich, den die zwei zusammen ausgeheckt hatten. Aber natürlich auch an das schreckliche Ende, die Tragödie, die erst dazu geführt hatte, dass Markus nun offiziell Michaels Papa war.
Desna Arun, Dr. Sahdis bildhübsche Freundin, entpuppte sich als dreißigjährige Tourismusmanagerin, die erst seit kurzem, an der Seite von Herrn Chandra, dem Attaché, dem Markus seinen Auftrag verdankte, an der indischen Botschaft in Bonn arbeitete. Als Dr. Sahdi ihr Bernd und mich als Drs. Mendel vorstellte, sagte sie, dass es in Deutschland jemanden gleichen Familiennamens gebe, der im Auftrag des indischen Tourismusministeriums Bücher über das indische Eisenbahnwesen schrieb. Umso erstaunter war sie, als sie erfuhr, dass es sich bei dem Autor um unseren Sohn handelt.
Wie auch Dr. Sahdi stammte sie aus dem indischen Bundesstaat Kerala. Allerdings war sie in England zur Schule gegangen und hatte dort auch studiert. Ihre Familie, so erzählte sie, war auf dem Agrarsektor tätig, betrieb aber auch einige ayurvedische Kliniken entlang der Malabarküste.
Bei der Vorstellung hatte Desna darum gebeten, dass wir sie mit ihrem Vornamen anreden sollten. Bernd hatte die Gelegenheit genutzt vorzuschlagen, dass wir uns doch alle duzen sollten. Etwas was wir schon lange hätten machen sollen.
Der Nachmittag verging wie im Flug. Während Bernd auf der Terrasse mit Mani, die Vor und Nachteile ayurvedischer Medizin versus unserer Lehrmedizin diskutierte, hatten