Vorwort
Dieses Buch ist der Versuch einer Selbsttherapie, um nicht gänzlich dem Wahnsinn zu verfallen. Sieben Therapien, davon drei stationär in der HWK II in Bad Zwesten, verteilt auf den Zeitraum von zwanzig Jahren, haben nicht ausgereicht, um das Kindheitstrauma dauerhaft in Schach zu halten.
Immer wieder gerate ich in Situationen, in denen ich mich missbraucht fühle. Dann tritt der Überlebenswille massiv in den Vordergrund und ich schlage verbal um mich. Körperlich wäre es nicht möglich, da ich bildlich gesprochen, eher die Zitterpappel, denn die Eiche bin, die den emotionalen Stürmen trotzen muss.
Nachdem der Täter seit mehreren Jahren schon verstorben ist, erscheint mir diese Form der verbalen Auseinandersetzung am sinnvollsten zu sein.
Ich werde aber nicht nur meinem Bruder, Reinhard Franz S., die Frage WARUM stellen. Ich werde sie auch mir selbst, meinem Mann, meinem Sohn und meiner Schwiegertochter, meiner Schwester und meinem Schwager, sowie meinem engsten Freundeskreis stellen.
Zu jedem WARUM gehört in Umkehrschluss die Frage WIESO. Nur in diesem Kontext können meines Erachtens, die möglichen Antworten gespiegelt werden.
Ich hoffe, spätestens zu Beginn des nächsten Jahres, einen Behandlungsplatz in einer Psychiatrischen Klinik zu finden. Leider ist Deutschland hinsichtlich der gesundheitlichen Versorgung mittlerweile zur Servicewüste verkommen.
Kliniken jeglicher Art gehören, wie auch Kinder-. Pflege- und Seniorenheime in staatliche Hand. Jegliche Form einer gewinnorientierten Ausrichtung führt dazu, dass der Patient nurmehr eine zahlende Nummer ist.
München, 13. November 2022 – 03:09 Uhr
EINS
Erster Brief an Reinhard Franz S., München 13.11.2022
Geliebter Bruder, WARUM hast ausgerechnet du, der du doch als einziger in der Familie mir zu verstehen gegeben hast, dass ich ein liebenswertes Wesen bin, meinen Seelenfrieden geraubt? WARUM hast du dich der Verantwortung entzogen, mir Rede und Antwort zu stehen?
Du legtest den Kopf auf den Tisch und starbst, hast dich einäschern und unter einem Baum zur letzten Ruhe betten lassen, ohne dass deine Geschwister davon Kenntnis hatten.
WARUM diese Anonymität? Konntest du uns nicht verzeihen, dass wir nach dem Tod unserer Mutter, unseren gesetzlichen Erbanspruch geltend machten?
WIESO glaubtest du allein ein Anrecht auf unser Elternhaus zu haben? Wir haben unseren Beitrag zum Familieneinkommen geleistet, was man von dir nur bedingt behaupten kann. Du warst der Vorzeigesohn, der Überflieger, der geachtete Lehrer, der begnadete Organist, der, wenn er denn mal anwesend war, sonntags der Orgel Töne entlockte, um die dich das ganze Dorf beneidete. Dass du dich Zeit deines Lebens dem Suff hingegeben hast, dich vor jeder Verantwortung gedrückt und den Eltern auf der Tasche lagst, hast du wohl verdrängt. Darin warst du, nach eigenem Bekennen, unserer Schwester gegenüber, ein wahrer Meister.
WIESO glaubtest du, damit durchkommen zu können, dir mit unserer Schwester, das Erbe teilen und mich im Regen stehen lassen zu können? WARUM hast du nicht gecheckt, dass es unsere Schwester und unser Schwager waren, die dir halfen, als du mit der Situation völlig überfordert warst? Wie immer, hast du anstatt einmal Eier in der Hose zu haben und anzupacken, Trost im Glaserl Wein gesucht. Wenn es bei einem Glas geblieben wäre, hätte niemand Anstand daran genommen. Wahrscheinlich waren es mehrere Flaschen, sonst wärst du nicht total besoffen vor der Garage gelegen, so dass die Nachbarn im Kloster anriefen, und der Prior unseren Schwager verständigte, dass man nach dir sehen müsse.
WIESO war die Hilfe, die du von den beiden erhalten hast, so selbstverständlich für dich?
WARUM glaubst du, haben sie das gemacht? Aus Eigennutzt? Weil ihnen langweilig war, sie nichts Besseres zu tun hatten?
WIESO war in deinem Leben es immer selbstverständlich, dass die Familie dich auffängt? Du kehrtest nach deinem Fauxpas (freundlich ausgedrückt), mit den beiden vierzehnjährigen Jungs im Westerwald, notgedrungen ins Elternhaus zurück. Was hast du danach gemacht?
NICHTS, wenn ich mich richtig erinnere, dich bedauert, gesoffen, verdrängt.
WIESO glaubst du, hat Mutter, es fällt mir schwer, diese Person so zu nennen, ich werde sie fort an mit SIE betiteln, alle Hebel in Bewegung gesetzt, dich noch vor dem Prozess, unter die Haube zu bringen? Bis nach Lothringen seid ihr gereist. Du, Anfang Dreißig, schwuler, pädophiler Pädagoge, bist brav mit den Eltern mitgefahren. Hast sehr wahrscheinlich selbst den Wagen gelenkt, Vater war gesundheitlich nicht in der Lage, solche Strecken zu bewältigen, und SIE hatte zu der Zeit noch keinen Führerschein
Soll ich dir sagen WIESO? Damit im Dorf keiner von dem Skandal erfahren würde. Du, der Vorzeigesohn, hattest dich an Minderjährigen vergangen, musstest den Schuldienst quittieren und zurückkriechen ins Elternhaus, gedemütigt und geprügelt. Dass du dafür selbst die Verantwortung zu tragen hattest, sollte dir bewusst gewesen sein! Oder hast du dich, auch in dem Fall, der Gnade des Verdrängens hingegeben? Verdrängen mit Hilfe des Alkohols.
In unserem Elternhaus gab es keine teure Auslegeware, dafür fehlte das Geld. Es ist mir eh ein Rätsel, wie unsere Ahnen es geschafft hatten, mit den wenigen Mitteln über die Runden zu kommen, aber dies sei hier nur am Rande erwähnt. Dafür stapelte sich das, was unter den Teppich gekehrt wurde, mehrere hundert Meter hoch, der Eifelturm unterm Teppich. Diese Metapher dürfte dir gefallen, frankophon angehaucht, wie du schon immer warst.
WARUM wohl hat SIE dich gewähren lassen. WIESO hat SIE dir nicht zugesetzt, dass du dir umgehend eine Arbeit suchst? Du hattest einen LKW-Führerschein, hättest als Fernfahrer arbeiten können, Geld verdienen, wieder auf die Beine kommen, ein eigenständiges Leben führen können. WIESO hast du das nicht gemacht? In Vaters Augen warst du der fehlende Sargnagel. Ihr habt euch nicht verstanden, habt nie einen Draht zueinander gefunden.
WARUM war das wohl so? Lag das deiner Meinung nach daran, dass du sechs Jahre alt warst, als ihr euch zum ersten Mal gesehen habt? Laut Aussage von SIE, verstecktest du dich angesichts des fremden Mannes unter dem Tisch. Leider hat SIE nie erwähnt, wie Vaters Reaktion war. Glaubst du nicht auch, dass Vater dich grenzenlos geliebt, sich darauf gefreut hat, dich zu sehen, dich in die Arme zu nehmen? Ich weiß nicht, ob ihr euch in den Armen gelegen seid, SIE hat nichts davon erwähnt. IHR Fokus drehte sich nur um deine Befindlichkeit, so, wie du es von klein auf gewohnt warst.
Plötzlich warst du nicht mehr das Hähnchen im Korb. Nun war Konkurrenz im Haus, Konkurrenz, die sich das nahm, was dir verwehrt war, SIE als Frau. Du wirst das im Alter von sechs Jahren, mit der Ratio nicht realisiert haben, emotional sicher schon. Plötzlich drehte sich alles nur um den kranken Mann, der doch besser im Felde geblieben wäre. SIE hat das nie so formuliert, mit Sicherheit aber so empfunden. IHR kleiner Kosmos drehte sich um dich und Oma, vielleicht noch um ihren heiß geliebten Bruder Jakob, dem ich meinen zweiten, gleichsam ungeliebten, Vornamen verdanke.
Gemäß überlieferten Berichten lag Vater fast ein ganzes Jahr in Mainz in der Klinik. Hatte SIE gehofft, dass er es nicht schaffen würde, dass sämtliche ärztliche Kunst vergebens wäre? Konntest du, nachdem der erste Schock überwunden war, wieder zurück auf den Sockel, den du Zeit deines Lebens nicht mehr verlassen solltest? Welche Gefechte hast du mit Vater ausgefochten? Ihr müsst miteinander geredet haben, das ließ sich nicht vermeiden. Woran ist es gescheitert, dass ihr nicht zueinander gefunden habt?
Fragen über Fragen, und ich habe derer noch viele. Für heute mag es genug sein. Von dir bekomme ich keine Antworten.
München, 13.11.2022 – 04:23 Uhr
Zwei
Erster Brief an Michael S., München 18. Dezember 2022
WARUM bekomme ich keine Antwort auf meine längst gestellte Frage des Wegziehens? Worauf wartest du? Hast du Angst vor den Konsequenzen? Willst du Weihnachten abwarten, den Jahreswechsel? Hoffst du, dass ich meine Meinung ändere, nachgebe? Dass alles beim Alten bleibt?
Es geht mir nicht gut, dass weißt du! Du weißt auch, dass es nicht das Herz ist, was mir Sorgen bereitet. Meine Psyche und die derzeitige hypotone Phase macht mir mehr Kummer. Die Bereitschaft, alles, aber auch wirklich alles, über den Haufen zu werfen, wieder von vorne, neu zu beginnen, ist größer denn je.
Dein beharrliches Schweigen ist wenig förderlich. Es genügt nicht, mir zu sagen, dass du mich liebst. Das weiß ich, und ich weiß es auch zu schätzen. Ich habe ein Gedächtnis wie ein Elefant. Verzeihen und vergessen, sind zweierlei paar Schuhe. Ersteres kann ich, letzteres nicht.
Du hattest mich, am Deutschen Eck, gefragt, wieviel Zeit ich uns für das Projekt Umzug gebe. Wir hatten uns auf sechs Monate verständigt. Davon sind zwei Monate, also ein Drittel der Zeit, um. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, wenn wir das Projekt innerhalb des uns gesteckten Zeitraums abschließen wollen!
Oder hoffst du, dass ich nach der endgültigen Diagnose, sofern es eine gibt, meinen Wunsch nach einer räumlichen Veränderung ad acta lege?
Vielleicht hast du Glück, und ich bleibe auf dem Tisch. Sorry, ich weiß, dass purer Sarkasmus aus meinen Zeilen spricht. Ich weiß, dass du dann völlig aus der Bahn geworfen wärest. Allerdings solltest du die Augen vor solch einer Möglichkeit nicht verschließen. Alles kann, nichts muss. Dieser Spruch, der in unserer Gay Community so oft in den Profilen zu lesen ist, trifft beim Herzkatheder voll zu. Wobei ein möglicher Infarkt kein Problem darstellt, schließlich ist man ja in den Händen erfahrener Kardiologen. Ein Schlaganfall ist eine ganz andere Hausnummer. Man weiß nicht, welche Regionen des Gehirns betroffen sind. Es muss nicht dazu kommen, es kann aber. Genau aus diesem Grund lassen sich die Ärzte vom Patienten unterschreiben, dass sie im Fall eines solchen Auftretens, nicht zum Anwalt rennen und klagen. Diese Untersuchung abzuwarten, bedeutet, wieder einen Monat verlorene Zeit.
Wir stehen eine knappe Woche vor dem Fest der Feste. Alle Jahre wieder der gleiche Rummel. Wie in jedem Jahr, bin ich heilfroh, wenn die Feiertage und vor allem der Jahreswechsel, überstanden sind. Wenngleich ich, genau wie du, Veränderungen nicht wirklich mag, und mich immer wieder Situationen stellen muss, wo sich dies nicht vermeiden lässt. So habe ich an Silvester immer das Gefühl, mich verkriechen zu wollen. Ich verstehe nicht, was die Menschen am Jahreswechsel so toll finden, warum man Millionen in die Luft schießt. Ich verstehe diese aufgesetzte Fröhlichkeit, dieses sich um den Hals fallen und abbusseln nicht.
Vielleicht ist es der letzte Jahreswechsel für mich. Macht nichts, ich bin nicht traurig darüber, dann sollte es eben keine einhundert Jahre dauern, dieses Leben, dann geht der Ofen halt mit vierundsechzig aus. Dann habe ich wenigstens Ruhe, für immer.
Du wirst allerdings damit zurechtkommen müssen, wirst an dir arbeiten müssen, dich nicht der Verzweiflung, dem Suff oder sonstigen betäubenden Mitteln, hinzugeben. Meine Familie wird dich unterstützen, sowohl K. und K. in Bischofsheim als auch meine Schwester und ihr Mann in Urmitz. Bedenke aber, die Familie wohnt nicht ums Eck. Du wirst entweder damit leben müssen, meinen Geist, an den dich in den ersten Wochen und Monaten jeder Winkel hier erinnert, zu ertragen, oder aber du wirst Veränderungen vornehmen. Es kann durchaus genügen, die Wohnung aufzumöbeln, sprich einmal komplett neu zu gestalten. Eine neue Sicht, wenn du auf deinem neuen Sofa sitzt und in die neu gestaltete Essecke blickst. Es kann allerdings auch sein, dass du die Wohnung verkaufst, weg ziehst, dir woanders etwas Neues aufbaust.
Ich fände es schön, wenn wir gemeinsam das Projekt vorantreiben würden. Leider hat sich gestern bei mir wieder das Gefühl eingeschlichen, dass du nicht hinter dem Projekt stehst.
Du kennst meine Meinung zum Thema getrenntes Wohnen. Das wäre nicht der Anfang vom Ende unserer Beziehung. Es wäre das Ende. Wenn ich allein wegziehe, dann werde ich vermutlich nicht in Bayern bleiben.
Was mir in München schon immer gefehlt hat ist ein Strom. Sicher, die Isar, die Reißende, ist ein Fluss, aber eben kein Strom. Mir fehlt der Rhein, mir fehlt die Möglichkeit, an seinem Ufer spazieren gehen zu können.
Mir hat es in Ingelheim gut gefallen. Wie sich dieses, einst öde Kaff, in eine lebendige Kleinstadt verwandelt hat. Dort sollte es kein Problem sein, eine bezahlbare Wohnung zu finden. Ich gehe nicht davon aus, dass die Kinder für immer und ewig in Bischofsheim bleiben werden, ich erwarte es auch nicht. Ich beabsichtige auch nicht ihnen permanent auf die Pelle zu rücken, genauso wenig, wie laufend in Urmitz aufzuschlagen. Es wäre mehr ein „back to the roots“.
Deine Wurzeln sind in Bayern, in München. Meine in Rheinhessen. Ich bin nie mit dem Vorschlag oder Wunsch an dich herangetreten, mit mir ins Rheinland zu ziehen. Ich habe deinen Wunsch, dass das Nationaltheater erreichbar sein muss, stets respektiert.
Lieber Mischa, für dich ist es selbstverständlich, Wünsche zu definieren, zu erwarten, dass deine Partner darauf eingehen. Einige haben es mehr oder weniger zeitweise getan, andere nicht. Ich habe mein Leben lang Rücksicht auf Partner(in), Kind und Beruf nehmen müssen. Ich bin zu vielen Kompromissen bereit. Aber nicht dazu, in München wohnen zu bleiben.
Ich liebe dich, das weißt du. Ich hoffe, wir finden eine Lösung. Reden hilft, das ist der erste Schritt.
München, 18. Dezember 2022 – 08:14 Uhr